Das Gesetz des Wassers. Urs Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Schaub
Издательство: Bookwire
Серия: Simon Tanner ermittelt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919459
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Motiv? Niemand hatte eine brauchbare Vorstellung davon. Sein Freund Tanner würde jetzt sicher Shakespeare zitieren. Ein Königreich für ein Motiv oder so.

      Michel schüttelt sich vor Abscheu, legt sein Sandwich kurz auf den Beifahrersitz und betet die Kette seiner Lieblingsflüche herunter. Während der nicht enden wollenden Reihe angelt er sich, ohne hinzugucken, vom Hintersitz den Flachmann, den er dort für Notfälle bereithält, schraubt mechanisch den Deckel auf und leert ihn in einem Zug, so groß ist schließlich seine Not. In letzter Zeit häufen sich allerdings die Notfälle bedenklich, das muss sich Michel selber eingestehen. Wenigstens in hellen Momenten. Jedes Mal, wenn Michel den Flachmann geleert hat, beschließt er aufs Neue, ihn beim nächsten Mal wegzuschmeißen. Allerdings erst beim nächsten Mal. Schließlich hat ihm der kleine Schluck richtig gut getan. Er gibt sich einen Ruck, greift erneut nach seinem Brot, nimmt einen kräftigen Biss und während er kaut, schreibt er auf seinen bereitgelegten Notizblock.

      In einer Spalte notiert er in Stichworten die Dinge, die er bereits geklärt hat. Zum Beispiel hat er mit seiner ganzen Mannschaft systematisch die Bauernhöfe abgeklappert, die direkt um den See herum liegen. Fazit: Kein einziger Bauer vermisst eine Kuh. Und schon gar nicht drei. Und bei keinem ist irgendetwas Verdächtiges gefunden worden. Weder ein mit Blut verschmierter Hammer noch abgeschnittene Ohren. Auch keine gelben Ohrenmarken mit Registrierungsnummern. Die Abklärung betreffend der Rasse hat auch nur ergeben, dass praktisch die meisten Bauern in der Gegend genau diese Art Kühe in ihren Ställen haben. Er kam sich schon ziemlich merkwürdig vor, bei den Bauern die Fotos der toten Kühe rumzuzeigen und sie ernsthaft zu fragen, ob sie eine dieser Kühe kennen. Die meisten Bauern taten ihm zwar den Gefallen und betrachteten lange und ernsthaft die Bilder, aber keiner konnte zu den Kühen etwas sagen. Hinter seinem Rücken hörte er sie dann lachen.

      Er hat Thommen und Lerch in das zentrale Registeramt geschickt, in dem über sämtliche Kühe des Landes Buch geführt wird. Sie sollen die Listen, die ihm jeder einzelne Bauer übergeben musste, mit den Eintragungen im Amt vergleichen. Viel wird da nicht herausschauen, das weiß Michel schon jetzt. Aber so ist er wenigstens seine Mitarbeiter für ein paar Stunden los, deren Anwesenheit er im Moment schlecht erträgt. Und er muss sich nicht ihre dummen Vorschläge zu diesem dummen Fall anhören, in dem er feststeckt wie ein Schuh in der Kuhscheiße. Das letzte Wort wiederholt er einige Male laut vor sich hin. Sehr laut.

      Auf der gleißenden Goldfläche entdeckt er jetzt ein Boot. Von hier oben sieht es winzig aus und die blutrote Wasserfläche reflektiert so stark, dass er nur mutmaßen kann, ob es sich um eines der kleinen Kursschiffe handelt oder um eine private Yacht. Wahrscheinlich um ein Kursschiff, denn wer würde freiwillig bei dieser Hitze aufs Wasser fahren, zumal absolute Windstille herrscht. Ihn würden sowieso keine zehn Pferde auf so ein schwankendes Schiff bringen, egal ob mit Wind oder ohne. Die feste Erde unter den Füßen ist ihm da tausendmal lieber. Überhaupt diese verfluchte Sucht alles zu befahren, alles zu besteigen, in alles hineinzukriechen, zu fliegen, zu tauchen … die Menschen spinnen doch. Hat er nicht letzthin in einem sehr weisen Buch gelesen, dessen pessimistische Grundhaltung gerade so recht seiner eigenen Lebenssituation entsprach, dass alles Unglück in dem Augenblick beginnt, da man sich entschließt, sein Bett zu verlassen, statt sich die Decke über den Kopf zu ziehen und weiterzuschlafen?

      Er wäre heute Morgen auch besser im Bett geblieben.

      Dies ist nicht mein Tag, sagt er leise und greift nach dem Zündschlüssel. Da entdeckt er am südwestlichen Horizont einen winzigen Punkt am Himmel, der sich erstaunlich schnell vergrößert. Er zögert mit dem Starten des Motors.

      Es ist ein Helikopter. Der Pilot nimmt offensichtlich Kurs auf den See. Jetzt kann man sehen, dass der Helikopter an einem langen Seil irgendeinen Gegenstand transportiert. Der Helikopter hat mittler-weile die Mitte des Sees erreicht und geht zügig tiefer, auf die Wasseroberfläche zu. Michel lehnt sich zurück.

      Was zum Teufel? Was treibt der denn?

      Einen Augenblick später begreift er, dass das nicht irgendein Behälter ist, der da unter dem Helikopter hängt, sondern dass es sich um eine Art überdimensionierten Wassereimer handelt, der jetzt eben ins Wasser getaucht und gefüllt wird. Da wird Michel klar, dass der Helikopter hier Wasser holt, um ein Feuer zu löschen. Und tatsächlich hat er im Radio gehört, dass weiter unten im Welschland ein Wald brennt.

      Na ja, kein Wunder bei der Hitze.

      Er dreht entschlossen den Zündschlüssel.

      Im Moment, da er den ersten Gang einlegt, kommt ihm der Gedanke. Vor Schreck lässt er die Kupplung zu schnell los und würgt den Motor ab.

      Scheiße! Mit dem Helikopter! Auweia, das ist die Lösung! Die haben die Kühe mit dem Helikopter transportiert! Oder?

      Da ihm niemand antwortet, wischt er sich mit einer seiner heiß geliebten Windeln den Schweiß vom Gesicht und nickt dabei heftig mit dem Kopf, als ob er sich in einem lächerlichen Rollenspiel selber eine Bestätigung geben möchte.

      An den erschlagenen Kühen hatte man nämlich keinerlei Schleifspuren entdeckt, was bislang rätselhaft war. Denn wären die Kühe mittels der gängigen Transportmöglichkeiten, die – sagen wir mal – einem gewöhnlichen Bauern zur Verfügung stehen, transportiert worden, ginge so ein Transport vom Tatort bis zum See ganz sicher nicht ohne Schleif- und Kratzspuren ab. Aber mit einem Helikopter sieht die Sache ganz anders aus. Die Kuh wird auf ein am Boden ausgebreitetes Transportnetz geführt, dort erschlagen und das Netz wird samt Inhalt an den Helikopter gehängt.

      Nachtflug zum See … ausklinken … wegfliegen … und fertig ist die Lauge! Das Letzte spricht Michel EINS wieder laut, worauf Michel ZWEI erneut energisch nickt.

      Oh, jetzt krieg ich euch, ihr Schweine. Ihr verfluchten Kuhmörder. Ihr Schweine, ihr.

      Wieder dreht Michel den Schlüssel, gibt aber vor Aufregung zu viel Gas – und der Motor säuft ab. Nach mehreren erneuten Startversuchen ist die Batterie am Ende, denn der gute Michel hat viel zu lange bei ausgeschaltetem Motor die Klimaanlage laufen lassen. Die Flüche, die jetzt erklingen, hört zum Glück niemand, denn auf die Anhöhe, wo das Michel’sche Auto steht, verirren sich Ausflügler höchstens an Wochenenden.

      Was jetzt folgt, hasst Michel am allermeisten. Er muss einen seiner Blödmänner anrufen und um Hilfe bitten. Lerch oder Thommen – je nachdem, wer zufälligerweise sein Mobiltelefon gerade einmal nicht vergessen hat. Schwer seufzend greift er nach seinem. Im Moment, da seine Hand in die Leere greift, fährt ihm die Erkenntnis wie ein heißer Strahl ins Hirn, dass er das Telefon in seiner Wohnung hat liegen lassen. Angeschlossen an den Stromkreis seines kleinen Appartements, da er beim Aufstehen erst bemerkt hatte, dass der Akku leer war.

      Wäre ich nur im Bett geblieben … quod erat demonstrandum!

      ELF

      Was ist das Größre vor dem Herrn? Ein ausgespiener Apfelkern … hallo, ich bin wieder da. Ich habe jetzt die Antwort!

      Der Busch, vor dem Tanner einmal mehr steht, antwortet nicht. Auch das Tonband mit den fürchterlichen Höllenhunden bleibt stumm. Gut, es ist schon ziemlich spät am Abend, aber trotzdem ist es rätselhaft. Wie kann der Mann sein Dornenreich verlassen? Abgesehen davon hatte Tanner den Eindruck gewonnen, dass der Mann wie ein Einsiedler lebt, sein Platz gar nie verlässt, nicht mehr verlassen will. Warum müsste ihn denn sonst seine Frau versorgen? Er wird es in einer Stunde noch einmal versuchen.

      Tanner setzt sich in das halb leere Gartenrestaurant, das sich oberhalb der Brunnenanlage befindet, und bestellt ein Bier. Ob er Martha anrufen soll? Vielleicht besser nicht.

      Beim Frühstück war sie wieder merkwürdig reserviert und zurückhaltend gewesen. Wie weggeblasen war die aufgedrehte Laune der Nacht, da sie so schön und zärtlich gesungen hatte.

      Mitten in der Nacht schlich er sich zu ihrem Bett, um zu sehen, wie sie schlief. Ein Streifen milden Mondlichts fiel quer über die Bettdecke. Ihre Schultern und ein kleiner Ausschnitt ihrer Brust waren zu sehen. Tanner setzte sich behutsam auf die Bettkante. Ihr Gesicht, ohne die geöffneten großen Augen und ohne ihre lebendige Mimik, sah im Dunkel seltsam slawisch aus. Ihre Wangenknochen wirkten höher und ausgeprägter