Das Gesetz des Wassers. Urs Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Schaub
Издательство: Bookwire
Серия: Simon Tanner ermittelt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919459
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wird er Tausende von Äpfeln produzieren. Und wieder Apfelbäume. Der unscheinbare Apfelkern birgt eine Explosion von Leben in sich.

      Und was ist mit dem Kind? Als Antwort wahrscheinlich zu sentimental, auch wenn Jesus gesagt hat, lasst die Kinder zu mir kommen. Ein Hund? In dieser Art von Fragestellung ganz gewiss nicht die richtige Antwort. Also trifft Tanner seine Entscheidung. Kaum hat er sie ausgesprochen, juchzt der Busch auf.

      Nein, falsch! Ganz falsch. Ganz daneben. Da wollte einer klug sein … philosophisch sein, ha, ha … völlig falsch gedacht. Ha, ha, falsch … falscher … am falschesten …

      Die sonst schon hohe Stimme überschlägt sich und geht in ein heiseres Singen und Lachen über.

      Argumentieren hat wohl keinen Sinn, überlegt Tanner, schweigt und wartet, bis der Anfall vorüber ist.

      Du kannst die Batterien in die Kiste legen. Und morgen früh darfst du es wieder probieren … mit einer Antwort, meine ich, ha, ha … jeden Morgen eine Antwort. Wenn du die richtige weißt, werde ich mit dir reden … aber erst dann.

      Tatsächlich schiebt sich zwischen dem Boden und der untersten Reihe von Ästen eine flache Holzkiste hervor und bleibt auffordernd vor Tanners Füßen liegen.

      Seufzend legt Tanner die Batterien hinein. Sofort wird die Kiste in das undurchdringliche, blickdichte Gebüsch zurückgezogen. Und wieder hüllt sich der Busch in Schweigen. Tanner überlegt, ob er noch mal fragen soll, etwa gezielt nach der Toten im Brunnen, aber wahrscheinlich wäre die Antwort unter den gegebenen Umständen nicht ergiebig. Er muss sich wohl oder übel dem begonnenen Frageund-Antwort-Ritual unterziehen.

      Wie mag dieser Mann in den Busch gekommen sein? Ist er einfach ein Clochard, der seinen Ort gefunden hat? Was hält ihn gefangen? Innerhalb des Busches kann er ja allerhöchstens zwei Quadratmeter Platz haben. Und wer weiß von seiner Existenz? Die Behörden ja wohl kaum. Und was ist mit den Gärtnern? Die werden doch die Anlage regelmäßig pflegen. Die müssen es ja wissen. Und wer ist die alte Frau, die ihm als Verbindung zur Außenwelt und als Versorgerin dient? Ist sie seine Frau? Der Dialog zwischen den beiden wirkte wie gehässige Eheroutine.

      Ohne sich zu verabschieden, entfernt Tanner sich vom Busch. Jede Art von Verabschiedung wäre ihm lächerlich erschienen. Morgen wird er einen zweiten Versuch mit der Antwort machen. Die Alternativen sind ja an einer Hand abzuzählen. Hätte Tanner ein bisschen aufmerksamer auf die Umgebung des Brunnens geachtet, wäre ihm nicht entgangen, dass er nicht der Einzige ist, der sich für den Busch interessiert.

      ACHT

      Im spanischen Restaurant sitzt Martha mit hochgezogenen Schultern am Tisch. Die Hände zwischen die Knie geklemmt, starrt sie stumm abwechselnd auf ihren leeren Teller und auf Tanner. So attraktiv sie in der weißen Bluse, in dem kurzen Lederrock und den neuen italienischen Schuhen auch wirkt, die Hilflosigkeit in ihren Augen, verstärkt durch die Haltung ihres Körpers, machen aus ihr in diesem Moment wieder das scheue, ungeschickte Mädchen vom Land, das Tanner aus der gemeinsamen Schulzeit in Erinnerung hatte.

      Sie hatte ihn am frühen Nachmittag angerufen und gefragt, ob es ihm etwas ausmachen würde, sie in der Weltstadt am See zu treffen, da sie den ganzen Tag dort beschäftigt sei. Er hatte natürlich sofort eingewilligt, obwohl er nicht besonders gerne in die Stadt seiner früheren beruflichen Tätigkeiten zurückkehrte.

      Sie reagiert heftiger auf Tanners leisen Bericht über Elsie, ihre Liebe und ihren wahrscheinlich nahen Tod, als Tanner erwartet hatte. Eigentlich wollte er es ihr nicht erzählen, schon gar nicht an diesem Abend, aber irgendwie hat Martha, durch und durch raffinierte Journalistin, ihm schließlich die ganze Geschichte entlockt.

      Zur Bedingung, dass sie überhaupt mit ihm essen ging, gehörte ja das Versprechen, dass er ihr von seinem Besuch im Schlaraffenländli erzählte, und zwar mit allen Details, wie sie ausdrücklich betonte. Nun, ihr alle Details dieses Besuches zu erzählen, war kein Problem für Tanner. Zumal es ja ein ziemlich abrupt abgebrochener Besuch war. Aber wie macht man einer Frau begreiflich, warum man zu einer Nutte geht? Und auch noch einer Frau, die einem ungemein gut gefällt?

      Und so wurde das Gespräch zwischen Martha und Tanner ernster, leiser und die Spannung zwischen ihnen immer greifbarer. Und zwar eine Art Spannung, die einen immer stärker verkrampft, je mehr man ihr entkommen möchte. Tanner hatte sich den ersten gemeinsamen Abend ganz anders vorgestellt. Dabei hatte ihre Begrüßung und die erste halbe Stunde ihrer Begegnung ein unbeschwertes Klima gehabt. Sie sprachen über unverfängliche Dinge aus der gemeinsamen Vergangenheit. Sie lachten gemeinsam über ihre ehemaligen Mitschüler und über ihre alten Lehrer. Kurz, es war eine Leichtigkeit und Vertrautheit zwischen ihnen, die Tanner freudig überrascht und dementsprechend animiert hatte. Sie versetzte ihn in Hochform. Martha hingegen reagierte anders. Als ob diese Schwingungen sie erschreckten. Als ob diese Stimmung, die sich spontan zwischen ihnen eingestellt hatte, nicht in ihr Konzept passte. Man konnte direkt sehen, wie sie geradezu mit Fleiß und mit System ihre Ausgelassenheit und Offenheit zurücknahm. Wie eine Fischerin, die ihre Netze einholt. Ihre Fragen wurden zunehmend penibler, ihre Ansichten zu allem, was Tanner sagte, schärfer und eigenartiger. Und das Schlimmste für Tanner war: Je mehr er von sich preisgab, desto bedrückter wurde Martha. Es begann ein eigenartiger Teufelskreis: Da er das Gefühl hatte, dass sie ihn immer weniger verstand, holte er immer weiter aus, durchpflügte die Vergangenheit seines Lebens, berichtete von seinen Beziehungen und schilderte ihr so plastisch wie möglich einschneidende Ereignisse. Aus lauter Verzweiflung erzählte er hundert und eine Anekdote. Es nützte alles nichts. Er sah deutlich in ihren Augen, dass er sie nicht überzeugen konnte. Sie bestand darauf, dass er vom Wesentlichen sprach. Und so erzählte er schließlich doch die Geschichte von Elsie. Da begann sie stumm zu werden. Bei allen anderen Dingen, von denen Tanner vorher sprach, hatte sie unerbittlich nachgehakt. Jetzt lauschte sie nur noch stumm seinen Worten. Vom Essen bekam Tanner für einmal wenig mit, obwohl der spanische Koch ohne Zweifel exzellent kochte.

      Als Tanner endlich zu Ende erzählt hat, schweigen sie lange. Martha rührt in ihrem Kaffee. Dann blickt sie ihn lange an.

      Ich habe dich doch falsch eingeschätzt, Tanner. Es tut mir Leid … du tust mir Leid … die Kinder, obwohl ich sie nicht kenne, tun mir Leid … Elsie tut mir Leid … ja, ja, jetzt fange ich auch noch an zu weinen, Scheiße!

      Martha erhebt sich abrupt und verschwindet durch die Reihen der vielen verschiedenen Palmenpflanzen, die das Restaurant in einen wahrhaften Dschungel verwandelt haben; wahrscheinlich flieht sie zu den sehr gepflegten Toiletten, die sich in den Kellerräumen befinden. Unzählige gierige Männerblicke verfolgen die nackten Beine der schlanken Gestalt, bis sie das grüne Dickicht verschlungen hat.

      Affen … lauter Affen … Affen im Urwald, murmelt Tanner wütend vor sich hin. Er weiß selber nicht, auf wen er eigentlich wütend sein soll: auf all die Männer, die jedem Minirock hinterherhecheln, oder auf sich selber, weil er es nicht verstanden hat, den Verlauf ihrer Begegnung in andere Bahnen zu lenken.

      Barscher als beabsichtigt verlangt er die Rechnung bei dem sympathischen Kellner, der in dem Restaurant arbeitet, seit es unter der Herrschaft des Spaniers mit dem Bleistift hinterm Ohr steht. Tanner erschrickt selber über seinen unfreundlichen Ton. Zum Ausgleich gibt er dem Kellner ein geradezu fürstliches Trinkgeld und entschuldigt sich mit einem etwas verkniffenen Lächeln.

      De nada, choder … muchas gracias.

      Tanner steht auf und geht Martha nach.

      Er lauscht an der Tür der Damentoilette. Offensichtlich telefoniert sie mit ihrem Handy. Leider kann er kein Wort verstehen.

      Kein Wunder, bleibt sie so lange verschwunden, denkt Tanner und klopft an die Tür.

      Bist du noch da, Martha?

      Sie unterbricht ihr Gespräch.

      Ich bin gleich fertig, Tanner, entschuldige …

      Keine Ursache, ich wollte nur sicher sein, dass du noch da bist. Ich warte hier unten auf dich, ich habe bereits bezahlt. Lass dir Zeit.

      Tanner setzt sich seufzend in einen Kinderstuhl bei der Märchenecke, die für die kleinsten Besucher des