Das Gesetz des Wassers. Urs Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Schaub
Издательство: Bookwire
Серия: Simon Tanner ermittelt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919459
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er, denn er dachte, er hätte sie geweckt. Aber sie schlief fest. Durch die Drehung gab die Bettdecke ihr linkes Bein frei, bis hinauf zu ihrem Po. Was würde passieren, wenn er sie jetzt berührte? Es kostete ihn einige Anstrengung, sie nicht anzufassen. Seine Hand fuhr bloß mit gutem Abstand über Po und Bein, um quasi in der Luft ihre schönen Linien nachzuvollziehen. Er tat dies mehrmals. Den Abstand jeweils verkleinernd, bis er die Wärme ihrer Haut zu spüren glaubte. Dabei ließ er es klugerweise bewenden und kehrte zurück zu seinem Sofa. Dort lag er dann bis am Morgen mehr oder weniger schlaflos und belauschte die Konferenz einer immensen Vogelvollversammlung.

      Das Gespräch beim Frühstück bestritt Tanner praktisch allein. Martha hatte ihn nach dem Zustand von Elsie gefragt. Dies wahrscheinlich, um den Abstand zwischen ihnen zu festigen. Anfänglich erzählte er deswegen auch nur das Nötigste. In Fahrt kam er erst, als er von seinem regelmäßigen Vorlesen sprach. Elsie hatte ihm nämlich in den Tagen ihres kurzen Glücks gebeten, wenn sie einmal gemeinsam viel Zeit hätten, müsse er ihr sämtliche Geschichten aus Tausendundeiner Nacht vorlesen. Zwischen ihren Liebesakten sozusagen. Sie kannte einige Geschichten von der Schule her und liebte sie sehr.

      Als Tanner nun tagelang verzweifelt neben Elsie saß und irgendwann nicht mehr wusste, was er ihr erzählen sollte, denn man hatte ihm dringend empfohlen, täglich mit Elsie zu sprechen, kam ihm die Idee mit dem Vorlesen. Am Anfang fühlte er sich eigenartig verklemmt dabei, seiner Geliebten vorzulesen, die zwar atmet, aber sonst wie leblos daliegt. Aber die Ärzte meinten, man wisse eben nicht, ob jemand, der im Koma liege, nicht trotzdem alles mitbekäme. Vielleicht fände er einen Weg, in ihr Bewusstsein vorzudringen, auch wenn es sich bis auf den Meeresgrund zurückgezogen hätte.

      Meeresgrund war übrigens das Wort, das Glöckchen, die jüngste Tochter von Elsie, verwendete, um sich und ihren Freundinnen den Zustand ihrer Mutter zu erklären.

      So begann er dann eines Tages mit dem Vorlesen. Jeden Tag eine Geschichte. Die vergangenen Tage waren die ersten, an denen er nicht bei Elsie war. Wegen der Recherchen über seinen Großvater. Heute Vormittag hat er die Geschichte der dreihundertsten Nacht vorgelesen, das heißt einen Teil der Geschichte von Abu Mohammed, dem Faulpelz. Tanner hatte es sich angewöhnt, genau der Einteilung von Schehrezâd zu folgen, die klugerweise die Geschichten jeweils an einer spannenden Stelle unterbrach, wenn der Morgen kam, und erst in der nächsten Nacht weitererzählte. So hielt sie die Spannung auf die Fortsetzung der Geschichte über den Tag wach. Im Falle von Elsie hielt mit dieser Methode die Spannung bis zum nächsten Tag. Er hoffte es wenigstens. Denn, das war ja die schlimmste aller Ängste: eines Morgens zu kommen – und Elsie könnte nicht mehr zuhören. Insgeheim dachte und hoffte Tanner, dass eine der Geschichten so etwas wie ein Zauberschlüssel sei, der sie aus der Gefangenschaft ihres Zustandes befreien werde. Je länger er las, desto besessener war er von diesem Gedanken. Aber welche Geschichte wird es sein? Wird es morgen sein, wenn sie die Fortsetzung der Geschichte von Mohammed, dem Faulpelz hören wird? Wird es erst in vier Tagen sein, wenn es Mohammed gelingen wird, seine Geliebte aus den Händen des bösen Geistes Mârid zu befreien? Oder will sie sich sämtliche Tausendundeine Geschichten anhören? Und erst dann aufwachen? Tanner wischt diese Gedanken weg, die ihn ja sowieso nur wahnsinnig machen. Von diesen Dingen berichtete er Martha auch kein Wort.

      Weißt du, Martha, zu Beginn dachte ich noch, ich würde allein wegen Elsie lesen. Jetzt brauche ich das Vorlesen genauso. Das Lesen stellt für mich mittlerweile eine Art Verbindung zu ihr her. Wenn ich nicht mehr lese, bricht diese Verbindung ab. Kannst du das verstehen? Wenn sie sich denn wirklich auf dem Meeresgrund befindet, wie Glöckchen in ihrer kindlichen Ernsthaftigkeit behauptet, so wäre das tägliche Lesen in Glöckchens Bild so etwas wie der Sauerstoffschlauch bei einem altertümlichen Taucher. Wie auch immer: Ich habe mich an das tägliche Lesen gewöhnt und bin überzeugt, dass Elsie auf ihre Art die Geschichten hört.

      Für ihn selbst sind die Geschichten auf jeden Fall schon zur Medizin geworden. Denn seit er vorliest, hat sein Leben wieder einen neuen Sinn bekommen.

      Die Vielfalt dieser Geschichtensammlung lässt sich in ihrer Bedeutung und Tiefe ohne weiteres mit dem gesamten Repertoire der klassischen Musik vergleichen.

      Und auch die Wirkung auf mich ist ähnlich magisch, wie wenn ich klassische Musik höre.

      So redete er heute Morgen drauflos und Martha nickte verständnisvoll.

      An dieser Stelle seines Berichtes strich ihm Martha flüchtig übers Haar und schenkte ihm ein zärtliches Lächeln, trotz ihrer morgendlichen Reserviertheit. Ansonsten hörte sie mehr oder weniger stumm zu. Er vermied es, mit irgendwelchen Fragen in sie zu dringen. Obwohl da schon einige Fragen waren, die er gerne hätte stellen wollen. Auf dem Weg in die Hauptstadt sprachen sie nur noch über belanglose Dinge.

      Er setzte sie in der Nähe des Kunstmuseums ab und sie verabredeten einen Zeit- und Treffpunkt für die Rückfahrt am Nachmittag. Zurück in ihren Alltag, wie sie es nannte.

      Tanner fuhr dann in die kleine Klinik, die etwas außerhalb der Stadt liegt, um Elsie vorzulesen. Sie lag da wie immer, mit leicht geöffnetem Mund, und man hatte wirklich den Eindruck, als schliefe sie. Er küsste sie lange auf den Mund, nahm ihre Hand in die seine – und begann zu lesen. Ab und zu schaute er auf, um zu sehen, ob sie vielleicht auf eine besonders schöne Stelle der Erzählung reagierte. Heute war er nicht ganz so konzentriert wie sonst. Immer wieder geriet ihm das schlafende Katzengesicht von Martha dazwischen und zugegeben: auch die sanfte Linie ihres Pos und ihres Beines. Der heutige Abschnitt war kurz. Er blieb noch eine Weile sitzen, dann verabschiedete er sich, sprach kurz mit dem jungen Arzt, der Dienst hatte. Der konnte ihm natürlich nichts Neues sagen, aber Tanner hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Tag mit dem Dienst habenden Arzt zu sprechen. Auch dies gehörte zum Ritual. Etwas leichter ums Herz, verließ er die Klinik.

      Auf dem Weg zu seinem Mietauto rief ihn Michel an und bat dringend um ein Treffen. Sie verabredeten sich in einem Gartenrestaurant.

      Michel bestellte sich zwei große Bier aufs Mal. Damit der Kellner nicht gleich wieder kommen müsse, meinte er erklärend. Tanner begnügte sich mit einem Espresso und einer Karaffe Wasser. Seit der ganzen Finidorigeschichte, oder wie Michel sie nannte: der Finidorischeiße, waren sie richtig gute Freunde geworden. Oft erschien er unangemeldet bei Tanner, dann saßen sie, wenn es das Wetter erlaubte, bis in alle Nacht draußen im Garten oder gingen runter an den See – und schwiegen. Sie konnten unglaublich gut zusammen schweigen. Oder Tanner kochte für sie.

      Heute war Michel ausgesprochen gesprächig. Er berichtete Tanner über alle Details seiner Leidensgeschichte mit den Kühen. Er sprach etwas wirr von seinen Theorien, von Helikoptern und allerlei weiteren abenteuerlichen Spekulationen. Am Schluss war klar, Michel wusste nicht, wie weiter und erhoffte sich von Tanner einen Rat.

      Lieber Kollege, du weißt ja genauso gut wie ich: Wenn man gar nichts in der Hand hat, bedeutet es meistens, dass man etwas übersehen hat. Oft etwas sehr nahe Liegendes. Da man dieses aber nicht auf Knopfdruck finden kann, denn es gibt ja einen Grund, warum man es nicht sieht, wenden wir uns erst einmal dem Problem des Motivs zu. Keine Tat ohne Motiv. Schon gar nicht, wenn es sich um eine wiederholte Tat handelt. Da wir also den Täter nicht kennen, müssen wir erst einmal ein überzeugendes Motiv finden. Bist du so weit einverstanden, Michel?

      Er nickte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

      Da es sich in dem Fall nicht um Menschen handelt, können wir alle Motive, die sich auf die Opfer selber beziehen, ausschließen.

      Ach? Wie meinst du das?

      Wie ich das meine? Lieber Michel, ich glaube nicht, dass jemand eine Kuh umbringt, weil er sie persönlich hasst. Ich kann mir auch kein Eifersuchtsdrama zwischen Mensch und Kuh vorstellen oder so.

      Ja, ja. Ich verstehe.

      These eins: Die Kühe werden umgebracht, um den Besitzer zu schädigen.

      Michel nickt.

      These zwei: Darüber hinaus soll damit ein Zeichen gesetzt werden. Verstehst du, was ich meine? Es soll nicht nur in der Öffentlichkeit geschehen, es soll die Menschen auch aufregen, besser noch aufwühlen. Es soll dramatisch sein. Würde der Täter bloß jemanden schädigen wollen, könnte er