Das Gesetz des Wassers. Urs Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Schaub
Издательство: Bookwire
Серия: Simon Tanner ermittelt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919459
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sie Verwandte in Europa hatte? Dachten sie, ihre Tochter studierte in Europa? Allzu lange konnte Michiko noch nicht als Prostituierte arbeiten, denn sie hatte noch nicht diesen müden, desillusionierten Blick, den alle früher oder später bekommen, die in diesem Milieu arbeiten. Was sie wohl für Träume gehabt hat? Was für Zukunftspläne?

      Tanner passiert eine enge Gasse, in der ein übervoller Abfallcontainer eines chinesischen Fast-Food-Restaurants den Weg beinahe versperrt. Wahrscheinlich hat sich seine Bremse gelöst. Um weitergehen zu können, muss Tanner sich zwischen Container und Hauswand hindurchzwängen, den Container sogar etwas beiseite schieben. Sofort raschelt es laut und eine regelrechte Horde fetter Ratten flieht aus dem Küchenabfall ins nächste Kellerloch. Angewidert beschleunigt Tanner seine Schritte. Wenn es noch lange so heiß bleibt, werden die Bewohner dieser Stadt noch einige Überraschungen erleben.

      Kurz darauf steht er vor dem Polizeipräsidium. Er fragt nach dem Dienst habenden Kommissar und lässt ihm ausrichten, dass er einige Auskünfte zur Leiche im Brunnen geben könne. Nach telefonischer Rückfrage wird Tanner von einem jungen Bereitschaftspolizisten durch lange Gänge in eine Art Vorraum oder Warteraum geführt. An der Wand hängen Plakate mit steckbrieflich gesuchten Gewaltverbrechern. Die Mehrheit der gesuchten Männer ist aus den drei Osten.

      Sagt man hier einfach Osten, dann sind die aus dem Balkan, aus dem ehemaligen Jugoslawien oder die aus der ehemaligen Sowjetunion gemeint.

      Mit dem Begriff des Nahen Ostens meint man undifferenziert alle die, die aus dem arabischen Raum kommen. Auch die aus der Türkei. Unter dem schönen Begriff des Fernen Ostens sind die aus Sri Lanka, die Tamilen, aber auch die von der chinesischen und japanischen Mafia gemeint.

      Wie beruhigend, Verbrecher kommen aus dem Osten. Selten aus dem Westen. Aus dem Westen kommt das Wetter. Unsere eigenen Verbrecher sitzen ja eher in klimatisierten Räumen, tragen weiße Hemden, dezente Krawatten, fahren große Limousinen, bewohnen Hotelsuiten, haben nicht so böse Gesichter und werden nie auf solchen Plakaten abgebildet.

      Was für eine schöne westliche Tradition: Die Gefahr kommt aus dem Osten. Das Irrationale, das Ekstatische, das Fanatische, das Asiatische, die Hunnen, der Ostjude, der Türke, die gelbe Gefahr.

      Jetzt reicht es, denkt Tanner. Jetzt sitze ich schon zwanzig Minuten in diesem öden Raum. Und das mitten in der Nacht. Jetzt reicht es.

      Tanner geht zur Verbindungstür, die ins Büro des Kommissars führt, und klopft energisch. Als keine Antwort kommt, öffnet er kurz entschlossen die Tür.

      Drei Schreibtische sind in dem großen Raum so verteilt, dass jeder möglichst ungestört vom anderen arbeiten kann. Die Luft ist stickig und verbraucht. An der Decke sondern fahle Lampen ein kaltes Licht ab. An den Schreibtischen leuchten die obligaten Schreibtischlampen. In der Ecke steht ein billiger Ventilator, der ratternd die Hitze schön gleichmäßig im Raum verteilt. Cremefarbene Jalousien verschließen den Blick nach draußen. Zwei der Männer haben offenbar bis zu Tanners Eintritt auf den Monitor ihres Computers gestarrt, jetzt blicken sie ihn mit gehässigen Blicken an. Hauptkommissar Schmid sitzt zusammengesunken an seinem leeren Schreibtisch und fixiert die grüne Schreibunterlage. Bevor Tanner seinem Ärger freien Lauf lassen kann, räuspert sich Schmid laut. Dann spricht er schnell und ungehalten. Ohne aufzuschauen.

      Sie haben zwar geklopft, aber niemand hat herein gesagt! Oder haben Sie etwas Derartiges gehört? Ich würde vorschlagen …

      Ich würde vorschlagen, dass Sie mich jetzt einfach anhören. Sonst kann ich auch wieder gehen. Schließlich habe ich eine Information für Sie. Ich komme freiwillig hierher, mitten in der Nacht, und Sie lassen mich grundlos warten. Das ist nicht besonders höflich. Also, entscheiden Sie sich. Ich kann morgen auch direkt zum zuständigen Staatsanwalt gehen.

      Jetzt blickt Schmid endlich von seinem Schreibtisch auf, unsicher, ob er seiner schlechten Laune nachgeben und den Besucher einfach rauswerfen soll. Seine Mitarbeiter erwarten es von ihrem Chef, das spürt er ganz deutlich. Andererseits gibt es etwas an Tanners Auftreten, das Schmid irgendwie beeindruckt. Er weiß nur noch nicht, was es ist. Aber vielleicht hat der nächtliche Störenfried ja doch eine brauchbare Information.

      Gut. Entschuldigen Sie, dass ich Sie warten ließ. Natter und Waibel, lasst uns einen Moment allein.

      Die Angesprochenen erheben sich zögernd von ihren Stühlen, als ob sie noch nicht so richtig an die Ernsthaftigkeit der Aufforderung glauben. Aber Schmid unterstreicht sie mit einer Geste. Er will seine beiden Mitarbeiter bei dem Gespräch nicht dabeihaben, da er instinktiv spürt, dass Tanner ihm vielleicht intellektuell überlegen sein könnte. Und so eine Situation konnte Schmid noch nie aushalten. Zudem ist es immer von taktischem Vorteil, alleiniger Herr über wichtige Informationen zu sein. Wichtig vor allem für die Karriere, das haben ihn fünfunddreißig Berufsjahre gelehrt. Dass er heute Hauptkommissar ist, und nicht einer seiner Mitarbeiter, hat viel mit wohl überlegter Informationspolitik zu tun. Schmid weiß das. Auch wenn er es nie zugeben würde.

      Also, nehmen Sie Platz. Wie ist Ihr Name und was haben Sie mir denn so Wichtiges zu sagen. Um zwei Uhr siebenundzwanzig.

      Tanner lehnt sich zurück und schaut offen und direkt in die beleidigte Miene und die skeptischen Augen seines Gegenübers. Bis Schmid ausweicht. Er kaschiert diese erste Niederlage, indem er sich aus der untersten Schublade seines Schreibtisches ein Bündel weißes Papier holt.

      Ich habe dem Schild an der Tür entnommen, dass Sie Kommissar Schmid sind. Ist das richtig?

      Hauptkommissar, ja, das stimmt.

      Schmid könnte sich die Zunge abbeißen, dass er in die erste plumpe Falle gestolpert ist, die ihm Tanner gestellt hat. Aber jetzt ist es zu spät. Wenigstens lässt er sich nichts anmerken.

      Freut mich, Herr Hauptkommissar Schmid. Ich heiße Tanner und bin für ein paar Tage in meine Geburtsstadt zurückgekommen. Ich bin seit dreißig Jahren nicht mehr hier gewesen. Es hat sich zwar einiges verändert, aber es ist immer noch eine der schönsten Städte in diesem Land, wie eh und je. Außer, dass ich mich nicht erinnern kann, dass es früher in dieser Stadt jemals so heiß gewesen wäre.

      Als Schmid höflich über diese kleine rhetorische Pointe lächelt, schießt Tanner die Frage gezielt ab.

      Sie haben keine Ahnung, wer die tote Japanerin aus dem Brunnen ist, oder?

      Schmid verliert für einen Moment die Beherrschung über sein Gesicht. Ein Gesichtsmuskel zuckt und verzerrt seinen Mund zu einem schiefen Grinsen. Schnell wischt er sich mit dem Handrücken über den Mund.

      Wie kommen Sie darauf, dass wir sie nicht kennen?

      Jemand hat mir verraten, wie Ihre Mitarbeiter unter den Zuschauern vor Ort nach Zeugenaussagen gefragt haben. Bei der Gelegenheit hat man einem Ihrer Mitarbeiter eine Frage gestellt, und der war so frei, offen zuzugeben, dass die Polizei keine Ahnung habe, wer die Tote sei.

      Tanner blufft natürlich. Aber er ist sich sicher, dass die Polizei wirklich keine Ahnung von der Identität der Toten hat.

      Gut. Es stimmt. Wir wissen nicht, wer die Tote ist.

      Schmid schwitzt bereits an den Händen. Das Gespräch dauert noch keine zwei Minuten und schon drei Punkte für Tanner.

      Die Tote heißt Michiko. Das ist ein japanischer Vorname. Die japanische Kaiserin heißt auch so. Michikos Familiennamen kenne ich nicht. Sie lebte in Frankfurt, sprach ziemlich gut deutsch und war regelmäßiger Gast im Schlaraffenländli. Das heißt, sie war natürlich kein Gast, sondern sie arbeitete dort regelmäßig. Sie brauchen also nur nachzufragen. Sie kennen das Schlaraffenländli, oder? Ach, und noch etwas: Falls Sie je ihr Handy finden, werden Sie dort mit großer Wahrscheinlichkeit auch meine Nummer auf ihrer Anrufliste finden. Sie hat mich nämlich gestern angerufen.

      Schmid starrt Tanner an. Irgendwie ist ihm jetzt die Frage, die er logischerweise stellen muss, peinlich. Tanner hätte ja gleich alles erzählen können. Aber so einfach wollte der es ihm nicht machen. Woher kennen Sie denn diese … diese Michi …, diese Dame? Ich meine, Sie müssen natürlich nicht antworten.

      Oh, kein Problem. Ich