Kaukasische Sinfonie. Werner Ryser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Ryser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783305004911
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Melodie, verwendete dazu Worte in einer eigenen, unverständlichen Sprache und begleitete sie mit Akkorden. Sophie trat hinter ihn und schaute ihm über die Schultern. Er schlug mit dem Zeigefinger der linken Hand den Grundton an und mit Zeige- und Ringfinger der rechten die entsprechenden Tasten der grossen Terz und der Quinte. Scheinbar bereitete es ihm keine Mühe, Dreiklänge zu bilden.

      Das Kind spürte, dass es nicht mehr allein war. Es brach sein Spiel ab, drehte sich um und schaute die Mutter schuldbewusst an.

      Sophie hob den Kleinen hoch und schloss ihn in die Arme. «Wer hat dich das gelehrt, Jakob?»

      «Niemand, es ist ganz einfach.» Der Bub löste sich von ihr. «Ich zeige es dir.» Er kniete sich wieder auf die Klavierbank. «Wenn du hier beginnst», er schlug ein C an, «und dann alle weissen Tasten der Reihe nach hintereinander spielst, dann passen die Töne zueinander, bis du wieder denselben hast wie am Anfang, nur höher. Du kannst damit weiterfahren bis ans Ende des Klaviers. Es sind immer dieselben Töne, von ganz unten bis ganz oben, genau gleich wie eine Treppe.» Sein Zeigefinger hämmerte mit rasender Geschwindigkeit drei Tonleitern hintereinander hinauf und hinunter.

      Sophie war bass erstaunt. «Und schaffst du es auch, wenn du die Tonleiter», sie korrigierte sich: «die Reihe mit einer anderen Taste anfängst, beispielsweise mit dieser?» Sie zeigte aufs G. Gespannt beobachtete sie, wie Jakob einen Ton nach dem andern anschlug und nach dem E, ohne zu zögern, ein Fis spielte, bevor er mit dem eine Oktave höheren G zum Abschluss kam.

      «Aber diese Reihe kannst du wohl nicht.» Sophie zeigte aufs H. Die H-Dur-Tonleiter mit ihren fünf Kreuzen schien ihr denn doch zu schwierig für den Kleinen. Jakob lachte glücklich. Im Nu spielte er h-cis-dis-e-fis-gis-ais-h und schaute die Mutter stolz an. Sie drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel.

      «Ich kann noch mehr.» Jakob spielte sein Lieblingslied: C-a-f-f-e-e, trink nicht so viel Caffee! Er sang es und spielte dazu, zeitlich versetzt, die zweite Stimme auf dem Klavier.

      «Ich fasse es nicht», flüsterte Sophie. «Sag einmal Jakob», sie trat zu ihm ans Piano, «weisst du auch wie die Töne heissen? Zum Beispiel dieser hier?» Sie deutete aufs C.

      Der Kleine sah sie verwundert an. «Haben sie denn Namen?»

      «Und wie nennt man das?» Sophie spielte eine Tonleiter.

      «Eine Reihe?», fragte Jakob zweifelnd.

      «Kannst du drei Töne, die zusammenpassen, gleichzeitig spielen?»

      Der Bub schlug verschiedene Dur- und Moll-Akkorde an.

      «Und wie sagt man diesen drei Tönen?»

      «Ich weiss es nicht.»

      Sophie fuhr ihm über den Kopf: «Das musst du auch nicht wissen, mein Liebling, noch nicht. Ich bin stolz auf dich!» Sie nahm sich vor, ihm zu zeigen, wie man richtig spielt, welche Finger auf welche Tasten gehören.

      Von diesem Tag an setzte sie sich jeden Morgen eine Stunde mit Jakob ans Klavier. Zuerst brachte sie ihm bei, wie man Tonleitern hinauf und hinunter korrekt mit den fünf Fingern der rechten Hand spielt. Sophie gab ihm auf, das Erlernte fleissig zu üben. «Du musst so weit kommen», erklärte sie ihm, «dass deine Finger, ohne dass du denkst, die richtigen Tasten von allein finden.» Aber das war kein Problem für ihn. So konnte sie ihm schon bald zeigen, wie man die linke Hand einsetzt.

      Lange bevor sie Jakob im Klavierspiel unterrichtete, hatte Sophie mit ihm zahlreiche Kanons gesungen. Jeden Abend vor dem Einschlafen: Dona nobis pacem oder O wie wohl ist mir am Abend, tagsüber: Froh zu sein, bedarf es wenig, auch Hejo, spann den Wagen an und natürlich Bruder Jakob, an dem er wegen der Namensvetternschaft besonders Freude hatte.

      Zwei Jahre später war Jakob in der Lage, anspruchsvolle Stücke zu spielen. Sophie würde jenen Sonntag Ende März wohl nie vergessen. Als sie und Simon von einem Spaziergang zurückkehrten, überraschten sie ihre beiden grusinischen Mägde, die im Treppenhaus standen und andächtig dem Klavierspiel lauschten, das durch die angelehnte Wohnungstür in der Beletage klang. Sophie hielt ihren Mann am Arm zurück. «Jakob hat ein neues Stück entdeckt», flüsterte sie.

      «Kennst du es?», fragte Simon.

      Sie nickte. «Es ist der Fandango in d-Moll von Padre Antonio Soler, einem spanischen Komponisten. Ich habe ihn im letzten November geübt. Aber er spielt ihn besser als ich!»

      «Der Kleine ist ein Künstler», behauptete Ekaterina, als die Schlussakkorde verklungen waren. Tamara nickte bestätigend.

      «Was sagt sie?», fragte Simon, der nicht Georgisch konnte.

      «Jakob sei ein Künstler», übersetzte Sophie. Sie registrierte, wie ihr Mann lächelte.

      «Ein Künstler», wiederholte er. Jakob, das wurde er nicht müde zu behaupten, sei seinem eigenen, viel zu früh verstorbenen Bruder, dem Maler, dessen Namen er trug, wie aus dem Gesicht geschnitten. Wie sein Onkel war der kleine Jakob feingliedrig, hatte ein von Sommersprossen übersätes Gesicht und rotes, weiches Haar. Sophies Schwager hatte einige Bilder und Skizzen hinterlassen, die in ihrer Wohnung hingen. Sie hätte ihn gerne gekannt.

      Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock erschien Jakob.

      «Das hast du wunderbar gespielt!», rief Sophie.

      «Ich habe es mit Herrn Fresendorff heimlich geübt», sagte der Bub. «Es ist ein Geschenk für dich.»

      2

      Seit einem Jahr gab es auf Eben-Ezer einen neuen Bewohner: Cornelius Fresendorff, den Hauslehrer von Karl und Hannes, die inzwischen acht-, respektive siebenjährig waren. Er wolle nicht, dass seine Buben bei den Schwaben in Katharinenfeld zur Schule gehen, hatte Simon erklärt. Dort würden sie zusammen mit fünf Dutzend anderen Kindern unterrichtet und lernten wenig bis nichts. Er wusste, wovon er sprach. Er selbst war in seiner Kindheit im Emmental während sechs Jahren im Winterhalbjahr mit fünfundsiebzig Leidensgenossen in einer engen Stube eingepfercht gewesen, wo ein überforderter Schulmeister mit zweifelhaftem Erfolg der ungebärdigen Schar die Grundlagen des Schreibens und Rechnens eingeprügelt hatte. Tatsache war, dass Simon noch heute keinen fehlerfreien Brief zustande brachte. Dass er fähig war, die Bücher eines Gutsbetriebes zu führen, verdankte er den Brüdern Hieronymus und Benedict Lüthi, bei denen er das Käserhandwerk erlernt hatte.

      «Ich will, dass wir für Karl und Hannes einen Hauslehrer anstellen», hatte Simon gesagt. «Am besten einen aus dem Baltikum.» Dort spreche man Deutsch und Russisch, und richtig Russisch sprechen und schreiben müssten die Buben lernen, wenn sie es in Grusinien zu etwas bringen wollten. Er hatte einem Agenten in Tiflis den Auftrag gegeben, in Riga in der Zeitung für Stadt und Land ein entsprechendes Inserat aufzugeben.

      Immer wenn sie an Cornelius Fresendorffs Ankunft auf Eben-Ezer dachte, musste Sophie lächeln. Sie und Simon hatten am Teich im Blumengarten miteinander geplaudert, als ein Fremder durch die Birnbaumallee aufs Herrenhaus zuritt. Sie sahen ihm belustigt entgegen. Der Mann fühlte sich sichtlich unwohl auf seinem Maulesel. Ein zweites Tier, das sein Gepäck trug, führte er am Halfter neben sich her. Er war kleingewachsen und etwas rundlich. Seinem noch unfertigen, bartlosen Gesicht konnte man entnehmen, dass er nur wenig über zwanzig war. Er trug einen schwarzen Anzug, ausserdem einen breitkrempigen Hut. Durch die runden Gläser seiner Brille musterte er das Ehepaar und fragte, ob dies hier das Gut der Diepoldswilers sei.

      Sophie wurde warm ums Herz. Er sprach das Deutsch der Balten, dasselbe, das ihr Vater gesprochen hatte. «Ihr seid gewiss unser neuer Hauslehrer. Herzlich willkommen auf Eben-Ezer!», begrüsste sie ihn.

      Er stieg umständlich von seinem Tier und zog den Hut, unter dem ein schwarzer Haarschopf zum Vorschein kam. Er deutete eine Verbeugung an und schlug die Hacken zusammen. «Gestatten», sagte er, «Cornelius Fresendorff.» Die lange Fahrt mit der Eisenbahn und in Postkutschen habe ihm die Seele aus dem Leib geschüttelt, klagte er. Dass er am Schluss in Katharinenfeld noch zwei Maulesel habe mieten müssen, ausgerechnet er, der weiss Gott kein Reitersmann sei, habe seiner Reise nach Grusinien die Krone aufgesetzt.