Kaukasische Sinfonie. Werner Ryser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Ryser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783305004911
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von Eben-Ezer auf rund tausend Stück angewachsen war, hingen in der Käserei sechs grosse Kupferkessel mit einem Volumen von je hundert Litern. Unter ihnen standen drei Feuerwagen, mit denen man die Hitze regulieren konnte. Man brauchte sie nur hin- und herzuschieben. Aber es war abzusehen, dass man langfristig mehr Brennholz benötigen würde, als im eigenen Wald, wo man auch Bauholz schlug, nachwuchs. Dawit Achwlediani, der grusinische Obersenn, hatte schon davon gesprochen, zusätzlich Kuhdung als Brennmaterial zu verwenden. Aber Simon war die Vorstellung, seinen Emmentaler mit Mist zu produzieren, unangenehm. Das Angebot Kutzschenbachs kam ihm deshalb wie gerufen.

      «Weshalb wollen Sie den Forst abstossen?», fragte Sophie.

      Der Deutsche schaute sie erstaunt an. Er war es nicht gewohnt, dass sich eine Frau in Männergeschäfte einmischte. Dann lachte er. «Das will ich Ihnen gern sagen, Madame. Ich brauche flüssige Mittel und verkaufe deshalb Land. Nicht nur diesen Wald. Ich will bei Saparlo östlich von Dmanissi eine Tochtersiedlung mit einer Glashütte und zwei Ziegeleien aufbauen. Ein deutscher Direktor wird das Ganze leiten. Wir werben in Schlesien Glasfacharbeiter an. Für die Herstellung von Backsteinen und Ziegeln werden wir Perser, Griechen und Tataren anlernen. Das Dorf soll Alexandershütte heissen.»

      Wie viel der Wald denn kosten solle, wollte Simon wissen.

      «Fürst Zviad Ratischwili wäre bereit, fünftausend Rubel zu bezahlen. Ich verkaufe ihn Euch für dieselbe Summe plus einen Rubel, damit ich dem Hurensohn sagen kann, Ihr hättet mir ein besseres Angebot gemacht.»

      Ratischwilis Hof befand sich in Kariani, südlich von Eben-Ezer. «Lass dich von seinem Titel nicht beeindrucken», hatte sein Schwiegervater Simon einmal gesagt. «1793 hat der Zar den adeligen Familien in Grusinien dieselben Privilegien gewährt wie dem russischen Adel. Sie alle dürfen sich Knjaz nennen, egal ob sie von königlichem Geblüt sind oder nur Krautjunker wie Ratischwili, der nicht einmal hundert Kühe besitzt. Die grosse Zeit seines Geschlechts ist längst vorbei.»

      Der Preis scheine ihm hoch, meinte Simon. Für das Geld könne man eine Käserei samt dem dazugehörigen Inventar kaufen.

      «Was nützt die schönste Käserei, wenn das Holz fehlt, den Käse zu produzieren?» Von Kutzschenbach lehnte sich zurück. «Wissen Sie was? Ich lade Sie und Ihre Familie ein, die Pfingsttage bei uns auf Mamutlie zu verbringen. Wir können dann in aller Ruhe die Einzelheiten besprechen.» Offenbar war er sich sicher, dass der Handel zustande kommen würde.

      Wieder kam Sophie ihrem Mann zuvor: «Wir nehmen Ihre Einladung gerne an, Herr von Kutzschenbach.»

      Als sie am nächsten Tag nach Eben-Ezer zurückfuhren, sang Sophie leise den Text der Habanera: L’amour est un oiseau rebelle.

      «Was heisst das?», wollte Simon, der kein Französisch verstand, wissen.

      «Die Liebe ist ein wilder Vogel.»

      «Ist sie das?»

      «Manchmal schon.» Sie schmiegte sich an ihn.

      «Aha.» Simon war mit seinen Gedanken woanders. «Weshalb weiss von Kutzschenbach, dass ich unseren Forst vergrössern muss?»

      Sophie rückte von ihm ab. «Gottlieb Graf wird es ihm gesagt haben. Du hast ihm ja von deinen Sorgen erzählt.»

      Gottlieb Graf betrieb in Karabulakhi, fünf Werst nördlich von Eben-Ezer, Milchwirtschaft. Er stammte aus Reichenbach im Berner Oberland und war vor fünfzehn Jahren nach Grusinien gekommen. Wie die Ammeters, die Siegenthalers und andere Schweizer hatte er ein paar Jahre auf Kutzschenbachs Gutshof Mamutlie als Käser gearbeitet und sich dann selbstständig gemacht. Er hatte Käthi Bieri geheiratet, die Barbara von Kutzschenbach als Hausmädchen zur Hand gegangen war. Die Grafs und die Diepoldswilers waren Nachbarn. Man besuchte sich gegenseitig.

      «Natürlich!» Simon schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. «Er wird es von Gottlieb erfahren haben.»

      «Kutzschenbach kann den Hals nicht vollkriegen», stellte Sophie fest. «Es genügt ihm nicht, Grossgrundbesitzer zu sein. Nein, er will auch noch Unternehmer werden. Alexandershütte! Wenn du mich fragst, geht es ihm nicht darum, einen unserer drei Zaren dieses Namens zu ehren, sondern allein sich selbst: Alexander von Kutzschenbach.»

      «Und weshalb hast du seine Einladung angenommen, wenn du ihn nicht magst? Weisst du überhaupt, ob mir das passt?»

      «Ach Simon!» Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. «Vielleicht hättest du Nein gesagt. Aber ich wollte schon lange einmal Mamutlie sehen. Du weisst doch, wie neugierig ich bin. Man hört so viel über Herrn von Kutzschenbach und seine Frau.»

      Das liess sich nicht leugnen. Um die abenteuerlichen Umstände der Heirat des Deutschen und den Aufbau seines Gutes rankten sich Legenden.

      Alexander von Kutzschenbach galt als Abenteurer. In Katharinenfeld erzählte man sich, sein Vater, ein preussischer Rittergutsbesitzer, habe mit einem ungeschickten Landerwerb einen grossen Teil des Familienvermögens verloren, weshalb sein Ältester in den frühen Sechzigerjahren aufgebrochen sei, um sein Glück in Transkaukasien zu suchen. Anders als Simon, der derselben Auswanderergeneration angehörte, sich aber dank der Heirat mit Sophie in ein gemachtes Nest setzten konnte, hatte der Deutsche ganz von vorn beginnen müssen. Als der Siebenundzwanzigjährige 1862 nach Grusinien gekommen war, liess er sich hundert Werst südwestlich von Tiflis, nahe der Grenze zur Türkei, nieder. Die Gegend, in der fast nur Tataren lebten, galt als unsicher. Aber das focht ihn nicht an. Er pachtete zweitausendsechshundert Hektaren Wildnis und machte sich daran, sie urbar zu machen.

      Auch seine Frau war eine bemerkenswerte Person. Von Kutzschenbach, der in den Bernischen Blättern für Landwirtschaft einen Obersenn gesucht hatte, stellte 1863 ihren bereits fünfzig Jahre alten Vater an, den Käser Christian Scheidegger aus Lützelflüh. Die damals dreiundzwanzig-jährige Barbara begleitete ihre Eltern in den fernen Kaukasus. Zunächst hausten die Auswanderer, gemeinsam mit dem Patron, unter primitivsten Bedingungen in einer tatarischen Erdhütte, einer in einen Hang gegrabenen Höhle, die man durch einen Türsturz aus unbehauenen Balken betrat. Sie bestand aus einem einzigen Raum, in dem man knapp stehen konnte. Man schlief auf Strohsäcken. Gekocht wurde auf einem alten Herd, der gleichzeitig als Ofen diente. Ein Bach in der Nähe lieferte das notwendige Wasser. Unter den beengten Verhältnissen kam es, wie es kommen musste: Der Preusse schwängerte die um fünf Jahre jüngere Barbara und heiratete sie.

      Während ihr Mann seinen Besitz aufbaute und sich mit dem Schwiegervater um die Milchwirtschaft kümmerte, besorgte die junge Frau, unterstützt von ihrer Mutter, den Haushalt. Zunächst in ihrem Erdloch, dann in einer windschiefen Blockhütte. Nachdem die Männer endlich die Sennerei und die Ställe fürs Vieh errichtet hatten, machten sie sich an den Bau eines Herrenhauses. Das geschah sechs Jahre nach ihrer Ankunft in Transkaukasien. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Barbara bereits drei Kinder zur Welt gebracht.

      In den folgenden Jahren wurde Mamutlie, ihr Gutshof, zu einem Musterbetrieb ausgebaut. Von Kutzschenbach und das ehemalige Bauernmädchen gehörten inzwischen zu den reichsten Kolonisten in Grusinien. Sie hatten, umgeben von einer ihnen feindlich gesinnten tatarischen Bevölkerung, welche die Grenzen ihres Besitztums nicht anerkennen wollte, gewissermassen aus dem Nichts ein kleines Königreich aufgebaut. Von Kutzschenbach betrieb Viehwirtschaft. Daneben züchtete er Pferde und Schweine. Inzwischen war Mamutlie dreimal grösser als Eben-Ezer.

      Simon zog Sophie an sich. «Ich bin auch neugierig, Mamutlie kennenzulernen. Ausserdem will ich den Wald, koste es, was es wolle!»

      Ein paar Tage später ritt er durch den Forst, den ihm der Deutsche zum Kauf angeboten hatte. Er stellte fest, dass es sich um einen prächtigen Nutzwald handelte, in dem vor allem Eichen, Rot- und Weissbuchen, Ahorn und Eschen wuchsen. Gottlieb Graf hatte ihm erzählt, dass auf Mamutlie neben den zahlreichen Käsern und Handwerkern auch deutsche Forstleute arbeiteten. Sie hatten zusätzlich zu den Laubbäumen Fichten, Weisstannen und Kiefern angepflanzt, die in frühestens achtzig Jahren hiebreif sein würden. Simon kam zum Schluss, dass der geforderte Preis nicht zu hoch war.

      2

      Am 4. Juni 1881, dem