Kaukasische Sinfonie. Werner Ryser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Ryser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783305004911
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aber beeilen Sie sich.»

      Ich winkte Jakob. Er kam. Jelisaweta folgte ihm.

      «Wer ist die Frau?», fragte Maximow scharf.

      «Sie ist meine Magd», antwortete Jakob geistesgegenwärtig. «Ich reise noch heute nach Moskau, und sie muss meine Sachen packen.»

      Durchschaute der Offizier die Lüge? Er liess es sich nicht anmerken. Er gab einen knappen Befehl. Einige Soldaten rückten beiseite. Wir schlüpften durch die Gasse. Dann blieben wir stehen und sahen zu, wie die Menge zurückwich. Nach zehn Minuten war die Brücke bis auf Maximows Infanterieeinheit menschenleer.

      Als wir am Südufer Richtung Zentrum gingen, sahen wir, dass Hunderte von Männern, Frauen und Kindern den vereisten Strom überschritten. Offenbar gaben sie ihr Vorhaben, um vierzehn Uhr auf dem Schlossplatz zu sein, nicht auf.

      Wir bogen nach links in eine Nebenstrasse ein, die uns zur Mojka führte. Jelisaweta, die bisher geschwiegen hatte, fragte: «Weshalb tun sie das?»

      «Was meint Ihr?»

      «Weshalb wollen uns die Soldaten nicht zu Väterchen Zar lassen?»

      Väterchen Zar! Ich habe nie begriffen, weshalb die Russen für ihre Unterdrücker das Diminutiv verwenden. «Ihr habt gehört, wie der Offizier gesagt hat, dass er euch nicht empfangen will.»

      «Das glaube ich nicht. Ich glaube auch nicht, dass er weiss, dass seine Soldaten drohen, auf uns, seine Kinder, zu schiessen.»

      Ich wechselte einen Blick mit Jakob. Er zuckte mit den Schultern. «Habt Ihr immer noch vor, zum Winterpalast zu gehen?»

      «Gewiss, ich will dabei sein, wenn Pater Gapon Zar Nikolaj unsere Bitten vorträgt.»

      «Wir begleiten Euch dorthin», mischte sich Jakob ins Gespräch, und zu mir auf Berndeutsch: «Dieses Schauspiel möchte ich mir nicht entgehen lassen.»

      Was zu diesem Zeitpunkt weder Jelisaweta Iwanowna noch wir wissen konnten: Der Priester würde den Schlossplatz nicht erreichen. Die Prozession, die er vom Südwesten der Stadt Richtung Winterpalast führte, war beim Narva-Triumphbogen von Truppen aufgehalten worden. Anders als jene, welche über die Dreifaltigkeitsbrücke ins Zentrum gelangen wollten, hatte Gapons Prozession, als zwei Salven in die Luft abgegeben worden waren, die Warnung ignoriert. «Freiheit oder Tod», hatte der Priester gerufen, und die Leute waren mit ihm weiter vorwärtsmarschiert. Darauf zielten die Soldaten auf Körperhöhe. Dreimal schossen sie. Tote und Verwundete lagen auf dem Narva-Platz. Gefährten brachten Giorgij Gapon in Sicherheit. Er war verzweifelt. «Es gibt keinen Gott mehr», soll er gesagt haben. Und: «Es gibt keinen Zaren.» Immer wieder diese zwei Sätze.

      Wir hatten inzwischen den Winterpalast erreicht. Jakob und ich blieben beim Gebäude des Gardekorps stehen. Von hier aus überschauten wir den weiten Platz. Im Hintergrund glänzte die vergoldete Spitze der Admiralität. Mir erschien sie wie ein mahnender Zeigefinger. Aber vielleicht bilde ich mir das auch erst nachträglich ein. Die Leute hatten sich vor der Alexandersäule aufgestellt. Jelisaweta gesellte sich zu den Tausenden von Männern, Frauen und Kindern, die es, den Sperrungen durch die Truppen zum Trotz, geschafft hatten, über die Newa oder durch die vielen engen Gassen bis zum Winterpalast vorzudringen. Wir sahen ihr nach: eine kleine, schmächtige Gestalt, die sich, die Ikone des heiligen Nikolaus an ihre Brust gepresst, den Weg durch die Menge bahnte, um vorne mit dabei zu sein, wenn die Bittschrift dem Zaren überreicht werden sollte.

      Die Leute warteten. Als es von der nahen Isaaks-Kathedrale zwei Uhr schlug, wurde es still. Die Menschen starrten auf die Fassade des Winterpalastes, die grün, weiss und golden in spätbarocker Pracht prunkte. Sie warteten vergeblich auf Pater Gapon mit seiner Bittschrift. Und auch der Zar zeigte sich nicht auf dem Balkon über dem Hauptportal, um, wie erhofft, seine Kinder zu begrüssen.

      Stattdessen marschierte eine Gardeeinheit auf. Über ihren Uniformen trugen die Männer lange Wintermäntel. Sie nahmen in zwei Reihen Aufstellung. Ein Hornsignal ertönte. «Erste Warnung», sagte ich zu Jakob, der mich am Oberarm gepackt hatte. Die Arbeiter starrten ungläubig auf die Soldaten, die ihre Gewehre anlegten. Das Horn schallte zum zweiten Mal über den Schlossplatz. «Zweite Warnung», flüsterte ich. Viele in der zerlumpten Menge bekreuzigten sich. Manche sanken auf die Knie, falteten die Hände. Ich suchte Jelisaweta Iwanowna. Noch immer hielt sie die Ikone mit Sankt Nikolaus gegen ihre Brust gepresst. Auf ein Zeichen des kommandierenden Offiziers blies der Hornist zum dritten Mal. Eine Salve krachte. Getroffene Demonstranten wälzten sich schreiend im Schnee. Panik brach aus. Die Leute flohen, rannten um ihr Leben, suchten Schutz unter dem Triumphbogen des Generalstabsgebäudes, flohen durch die Grünanlagen zur Newa – und noch immer schoss die Garde, lud ihre Gewehre nach, schoss weiter.

      Als die Soldaten das Feuer endlich eingestellt hatten, wagte ich es nach einer Weile quer über den Platz zu gehen, dorthin, wo ich zuletzt Jelisaweta gesehen hatte. Jakob folgte mir. Jetzt war nichts anderes mehr zu hören als die Schreie, die Klagen und das Stöhnen der Verwundeten. Und das Weinen und die Rufe der Überlebenden, die nach ihren Angehörigen und Freunden suchten.

      In einem der vielen Tagebücher, die mein Grossvater hinterlassen und die mir meine Mutter zum Lesen gegeben hatte, war auch eine Schilderung der Schlacht von Achalziche im Jahr 1828. Er hatte als junger Leutnant daran teilgenommen. Jetzt, am Fuss der Alexandersäule, von der ein eherner Engel, der ein riesiges Kreuz trug, auf den weiten Schlossplatz hinunterschaute, konnte ich das Entsetzen nachvollziehen, das aus seinen Zeilen sprach. Ich sah Kinder, nicht älter als acht oder neun Jahre, die nach ihren Eltern riefen, während die sich vor Schmerzen auf dem Boden krümmten. Ich sah Männer und Frauen, welche beide Hände gegen ihren Leib pressten, als könnten sie das Blut, das zwischen ihren Fingern hervorquoll, zurückhalten. Ich sah eine junge Mutter. Sie war tot, aber an ihrer Brust weinte ein Säugling, als wüsste er, dass man ihn zur Waise gemacht hatte. Ich sah zahllose Leichen: Männer, Frauen, Kinder. Sie lagen kreuz und quer im Schnee, der sich rot verfärbt hatte. In grotesken Verrenkungen lagen sie da: auf dem Rücken, auf dem Bauch, übereinander.

      Und endlich sah ich Jelisaweta. Sie sass am Boden, gegen das Podest der Alexandersäule gelehnt. Ihr Kopf neigte sich zur Seite. Ihre erloschenen Augen starrten hinauf zum Balkon über dem Hauptportal, als könne sie selbst im Tod nicht fassen, was Väterchen Zar seinen Kindern angetan hatte.

      Die Ikone des heiligen Nikolaus lag neben ihr am Boden. Ich beugte mich zu ihr, schloss ihr mit dem Zeige- und Mittelfinger meiner Rechten die Augen. Dann hob ich die Ikone auf. Ich habe sie noch immer. Sie hängt jetzt in meiner Wohnung. Die Soldaten des Zaren hatten nicht einmal den Namenspatron ihres Monarchen verschont. Die Brust des Heiligen aus Myra ist von einer Kugel durchbohrt, wohl derselben, die Jelisaweta getötet hat. Jelisaweta Iwanowna, fünfundzwanzig Jahre alt, die mit fünfzehn ihr erstes Kind geboren, die mit ihrer Familie in erbärmlichen Verhältnissen gelebt, gehungert und gefroren hatte, die von ihrem Mann, wenn er betrunken nach Hause kam, verprügelt worden war und die gehofft hatte, Pater Giorgijs Bitten würden Nikolaj II. erweichen … Nikolaj, dieses mässig begabte Subjekt, in dem der Hochmut und die Grausamkeit von dreihundert Jahren jener aus dem Haus Romanow zu Fleisch geworden war. Nikolaj, der wie seine Vorfahren durchdrungen war vom Wahn, Gott habe ihn persönlich dazu berufen, als absoluter Monarch über einen Sechstel des Erdkreises zu herrschen. Dieser Nikolaj hatte seine Bluthunde losgelassen, um Kinder, Frauen und Männer, die nichts anderes wollten, als ihn um die Verbesserung ihrer elenden Lebensbedingungen zu bitten, abschlachten zu lassen. Und während seine Garde wütete, hatte er den Tag, wie man später erfuhr, mit seiner Familie ausserhalb der Stadt, im Katharinenpalast von Zarskoje Selo, verbracht. Jener 9. Januar 1905 forderte Hunderte von Toten und noch mehr Verwundete. Die genaue Zahl wurde nie bekannt. Weshalb auch? Es waren ja nur Arbeiter, Proletenpack, das gegen sein Schicksal aufbegehrt hatte. Nein, ich finde keine Worte, die stark genug wären, Nikolaj Romanow, diesen Massenmörder, zu verfluchen.

      Als ich mich aufrichtete, stand Jakob hinter mir. Er war blass. Seine Wangen waren tränenüberströmt. Zwei- oder dreimal öffnete er den Mund, als wolle er etwas sagen, brachte aber nicht mehr als ein krampfhaftes Schluchzen über seine Lippen. Er warf sich mir an den Hals, legte seinen Kopf an meine Schultern. So blieben wir lange stehen. Endlich hatte er sich ausgeweint. Ich nahm ihn am Arm und