Kaukasische Sinfonie. Werner Ryser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Ryser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783305004911
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schulterfreien roten Kleid auf der Bühne, lächelnd, mit halb geschlossenen Augen, und lässt den Bogen über die Saiten ihrer Violine tanzen. Sie scheint nicht zu bemerken, dass sie ihr Publikum verzaubert und es von seinen Vorfahren träumen lässt, die einst, wie unser Vater, die Donau hinunter zum Schwarzen Meer gefahren sind.

      Sie ist Primgeigerin im Orchester. Niemand neidet ihr den Posten. Marie ist unbestritten eine begnadete Violinistin, eine Künstlerin. Der Preis, den sie dafür bezahlt, ist allerdings hoch. Manchmal sucht sie mich in meiner Praxis auf. Sie hat Schmerzen im Nacken und in den Schultern, ausserdem im Handgelenk. Dazu kommt ihre ständige Angst, den hohen Ansprüchen Jakobs nicht zu genügen. Ich verschreibe ihr schmerzlindernde Salben, die ich nach den Rezepten von Mariam Stepanyan, der verstorbenen Hebamme und Kräuterfrau von Eben-Ezer, herstelle. Schon mein Vorgänger, Josef Erchinger, Maries Grossvater, hielt grosse Stücke auf die Heilkunst der Steppenhexe, wie er Mariam nannte. Was Marie Not täte: für ein paar Monate ganz mit dem Geigenspiel aufzuhören, um sich richtig auszukurieren. Am besten in Bordshomi, wo es Mineralquellen gibt, die Wunder bewirken sollen. Aber als ich ihr einmal den Vorschlag machte, schaute sie mich entgeistert an. «Das geht nicht», sagte sie. Ich vermute, sie hat Angst, dass Jakob sich eine andere Violinistin suchen würde, wenn sie, auch nur vorübergehend, mit dem Geigenspiel aufhörte.

      Endlich richtet sich Jakob auf, schaut vom Podium herunter zu mir und begrüsst seine Frau mit einem Kopfnicken. «Rachmaninow schreibt für die Instrumentierung des Orchesters zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Fagotte, vier Hörner, zwei Trompeten, drei Posaunen und Tuba vor», zählte er auf. «Ausserdem Pauken, grosse Trommel, Becken und natürlich die Streicher. Nur die Hörner bereiten mir Bauchweh. Wir haben lediglich zwei im Orchester. Was meint ihr, soll ich mich damit begnügen oder mir bei den Generälen Ersatz besorgen?»

      Generäle nennt er die Mitglieder der Blaskapelle. Die Musikanten tragen schmucke Uniformen und ziehen hinter Jakob mit schmetternden Klängen durchs Dorf. Er erwartet keine Antwort auf seine Frage. «Wenn wir das Klavierkonzert am Erntedankfest spielen wollen, kommt eine harte Zeit auf euch alle zu», sagt er stattdessen. «Ich werde wöchentliche Proben ansetzen, und natürlich Extraproben, getrennt für die Bläser und Streicher. Und üben müsst ihr, üben, üben.» Er streicht sich das rote Haar aus der Stirn.

      Wir schweigen, denn wir kennen Jakob gut genug. Er wird jeden Einwand von Seiten der Orchestermitglieder weglächeln, wird keine Ausrede gelten lassen. Wer in einer Probe fehlt, wird sie einzeln nachholen müssen. In seiner sanften, hartnäckigen Art wird er nicht lockerlassen, bis alle ihren Part zu seiner Zufriedenheit beherrschen.

      Die braven Katharinenfelder Musiker werden heimlich murren, aber sie werden sich seinem Willen beugen. Auch ich. Marie ohnehin. Wir alle sind stolz auf ihn, auf ihn, seine Begabung, sein Können und seine Erfolge.

      Zwischen 1895 und 1898 hat Jakob am Konservatorium von Sankt Petersburg Komposition und Instrumentation studiert. Zusätzlich besuchte er Vorlesungen über musikalische Formenlehre und kontrapunktischen Satz. Ausserdem nahm er Klavierunterricht in einer Meisterklasse, sass täglich vier bis sechs Stunden am Flügel und vervollkommnete sein Spiel. Abends ging er oft in die Oper, ins Konzert oder ins Ballett. Ab und zu begleitete ich ihn. Er pflegte mit geschlossenen Augen dazusitzen. Manchmal zog er eine Kladde aus der Innentasche seines Fracks und machte sich Notizen. Er komponiert schon seit seiner Kindheit. Ein halbes Jahr vor Abschluss seiner Ausbildung wurde ihm die Aufgabe gestellt, das Gedicht Sehnsucht von Joseph von Eichendorff zu vertonen. Er schuf eine Melodie, die mir noch heute die Tränen in die Augen treibt. Jakob schloss sein Studium mit der Kleinen Goldmedaille ab.

      Anschliessend begann er eine Laufbahn als Pianist. Er spielte in Kasan, Jekaterinburg, Moskau und Sankt Petersburg, gab Konzerte in Riga, Königsberg, Berlin und Dresden, in Böhmen und Mähren und sogar in Wien. Manchmal trat er gemeinsam mit Marie auf, die bereits damals konzertreif spielte. Aber um 1900, als Ludwig Wieland starb, kehrte er nach Katharinenfeld zurück und übernahm dessen Aufgaben. Seither dirigiert er nicht nur das Sinfonieorchester und die Blasmusik, sondern leitet auch den Kirchenchor und verleiht dem sonntäglichen Gottesdienst mit seinem Orgelspiel Glanz. Ab und zu geht er noch auf Tournee. Aber lediglich für wenige Konzerte in Georgien, nur ausnahmsweise auch Russland.

      Ich fragte ihn einmal, ob es ihm nicht leidtue, sein Talent in unserem grusinischen Krähenwinkel versauern zu lassen. Jakob sah mich erstaunt an. «Weshalb sollte es mehr wert sein, mit seiner Kunst einem Publikum aus blasierten Adeligen und reichen Bürgern die Zeit zu vertreiben als den Nachkommen schwäbischer Einwanderer die Freude an der Musik und am Musizieren zu wecken? Und wer sagt dir, dass ich mein Talent versauern lasse?» Er ereiferte sich. «Ich versuche ständig, mein Spiel zu verbessern, komponiere und …» Er stockte, ein schüchternes Lächeln huschte über sein Gesicht. «Ich will ein grosses Orchesterwerk schaffen. Ich weiss schon, wie ich es nennen werde.» Er errötete. «Kaukasische Sinfonie», sagte er schliesslich. «In ihr soll alles enthalten sein, was wichtig ist: die Schönheit unseres Landes und die Menschen, die hier leben, arbeiten, Kinder zeugen, sie grossziehen und sterben. Und ihre Sehnsucht nach Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit.» Er machte eine hilflose Handbewegung. «Alles. Ich stelle mir ein Werk vor, das die wichtigsten Episoden, die das Leben ausmacht, in Tönen zum Ausdruck bringt und sich unmerklich zu einem Ganzen vereint.»

      Dass er seinen Traum erzählte, war zweifellos ein Vertrauensbeweis. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Auch nicht mit unserer Mutter. Obwohl ich weiss, dass sie nicht verwundert wäre, wenn sie davon erführe. Was immer mein Bruder macht, ist für sie richtig. Wenn sie an Feiertagen mit Vater, Hannes und Martha und deren Kindern zum Gottesdienst nach Katharinenfeld kommt, versäumt sie es selten, mir zu erzählen, wie er sich bereits 1879 als Dreijähriger das Klavierspiel selbst beigebracht hat. Sie war vernarrt in Jakob – sie ist es immer noch. Er ist ihr Liebling, so wie für den Vater Hannes, der einzige von uns drei Brüdern, in dessen Blut das bäuerische Erbe unserer Emmentaler Vorfahren fliesst.

      Jakob

      1

      Im Frühjahr 1879 entdeckte Sophie Diepoldswiler, dass Jakob über ein ausserordentliches musikalisches Talent verfügte. Wenn sie am Piano sass, wich der Dreijährige nicht von ihrer Seite. Er kniete neben ihr auf der Klavierbank und schaute gebannt auf ihre Finger. Manchmal sang sie mit ihm Kinderlieder, die sie mit einfachen Akkorden begleitete. Wenn sie im Gemüsegarten arbeitete, spielte er im Kies zwischen den Beeten. Immer wieder stellte er ihr Fragen zur Musik, die ihn beschäftigten. Sophie antwortete, so gut sie konnte. Wurde es ihr zu viel, schickte sie ihn zu Mayranoush. Die Armenierin war ihre Amme gewesen. Heute führte sie die Hauswirtschaft auf Eben-Ezer.

      Einmal, als Sophie aus dem Garten zurückkehrte, sass Mayranoush auf der Veranda und rüstete Gemüse. Auch wenn immer mehr graue Strähnen ihr einst rabenschwarzes Haar durchzogen, war sie, fand Sophie, die schönste Frau, die sie kannte. Niemand hatte Augen wie Mayranoush: mandelförmig, unergründlich, dunkel. Sie neigte zur Melancholie. Nur selten spielte ein Lächeln um ihre vollen Lippen. Sie war gross und schlank. Nach dem Tod ihres Verlobten, von dem sie ein Kind empfangen hatte, wollte sie nichts mehr von Männern wissen. Seit ihr Sohn, Hovan, Sophies Milchbruder, einjährig an der Bräune verstorben war, hatte sie ihre ganze Liebe Sophie geschenkt, die an ihr hing, wie man an einer Mutter hängt. Wenn sie unter sich waren, sprachen sie Armenisch miteinander.

      «Wo ist Jakob?», fragte Sophie.

      Mayranoush unterbrach ihre Arbeit. «Er ist oben und spielt Klavier.»

      «Er spielt Klavier?» Sophie schaute sie ungläubig an.

      «Gewiss, er macht das schon seit einiger Zeit. Immer wenn er aus dem Gemüsegarten kommt, geht er in eure Wohnung und spielt. Hörst du ihn nicht?»

      Sophie lauschte. Tatsächlich waren aus dem Fenster ihrer Wohnung ganz leise Töne zu vernehmen – manchmal sogar Dreiklänge. «Wer hat ihn das gelehrt?»

      Mayranoush lächelte. «Wenn nicht du, wer dann?»

      Sophie schüttelte den Kopf. Sie ging ins Haus und stieg die Treppe hoch. Die Tür zur Wohnung war offen. Ebenso jene zum Salon. Auf der Schwelle blieb sie stehen.

      Jakob