Kaukasische Sinfonie. Werner Ryser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Ryser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783305004911
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Ufer der Mojka mieten können. Es befand sich zwischen dem Rathaus und dem Stroganow-Palais und gehörte der Witwe eines Generals, der erfolgreich gegen die Türken gekämpft hatte.

      An diesem 9. Januar äusserte Jakob nach dem Frühstück den Wunsch, vor seiner Abreise einen ausgedehnten Spaziergang durch die Stadt zu machen. «Wie in alten Zeiten!» Er spielte auf jene drei Jahre an, in denen er am Konservatorium studiert und bei mir gewohnt hatte. Wir waren damals oft zur Strelka auf der Wassiljewskij-Insel spaziert. Dort, zwischen den beiden grossen Säulen, sassen wir dann auf einer Bank, schauten hinüber zur Peter-und-Paul-Festung und unterhielten uns über Gott und die Welt. Heute standen wir auf der Dreifaltigkeitsbrücke. Wir lehnten uns gegen das Geländer und sahen den vermummten Gestalten zu, die ins Eis der Newa Löcher hackten und fischten. Über ihnen flatterten Möwen, eine zänkische Schar, die sich um das Gekröse jener Fische stritt, die aus dem Strom gezogen und ausgenommen worden waren.

      Kurz vor Mittag näherte sich uns von der Petersburger Insel her ein langer Menschenzug. Der Gesang frommer Lieder stieg in den kalten, blassblauen Winterhimmel. Kirchenfahnen flatterten im Wind, und manche trugen Ikonen und Porträts des Monarchen.

      Jakob schaute mich an. «Eine Prozession?», fragte er. «Welchen ihrer Heiligen verehren sie denn heute?»

      «Keinen Heiligen», sagte ich. «Sie sind unterwegs zum Winterpalast, wo sie Zar Nikolaj eine Bittschrift überreichen wollen.»

      Im Dezember hatte die Direktion der Putilow-Metallwerke, die im Südwesten der Stadt Schiffe, Maschinen und Waffen produzierte, vier Arbeiter entlassen. Ihre Kollegen forderten vergeblich deren Wiedereinstellung. Darauf brachen in ganz Sankt Petersburg Unruhen aus. In rund vierhundert Betrieben streikten über hunderttausend Arbeiter.

      Am 7. Januar, als ich von einem Krankenbesuch im Hafenviertel zurückkehrte, war ich zufällig Zeuge einer Versammlung geworden. Sie fand unter freiem Himmel statt. Pater Giorgij Gapon, der mit dem Segen der Obrigkeit einen Arbeiterverband gegründet hatte, stand in seinem Priesterrock auf einer Kiste. Der etwa dreissigjährige Geistliche mit seinem dunklen, gewellten Haar und dem akkurat gestutzten Bart war erregt. Er hatte eine Petition verfasst, die er jetzt vorlas. Im Namen der Fabrikarbeiter bat er den Zaren untertänigst um die Einführung des Achtstundentags, um die Garantie von Mindestlöhnen, eine Sozialversicherung, freie Gewerkschaften und Bürgerrechte. «Der Zar soll endlich erfahren», schrie Gapon, «wie seinem Volk von geldgierigen Unternehmern, erbarmungslosen Vorgesetzten und bestechlichen Beamten das Leben zur Hölle gemacht wird, während sie ihn über das Leiden seiner Kinder im Dunkeln lassen.» Seine Stimme hatte sich überschlagen.

      Ein paar revolutionäre Sozialisten, die sich unter die Menge gemischt hatten, riefen, Nikolaj wisse sehr wohl, wie es den Arbeitern gehe, aber deren Schicksal sei ihm gleichgültig. «Eine Bittschrift!», höhnte einer. «Nikolaj lacht über euch. Er und sein Pack verstehen nur die Sprache der Gewalt.»

      Ich gab ihm im Stillen recht. Abgesehen von meiner karitativen Tätigkeit in den Elendsquartieren der Stadt, in denen die Arbeiter mit ihren Familien dahinvegetierten, hatte ich es meistens mit Patienten zu tun, die in der Lage waren, meine Dienste zu bezahlen. Dazu kam, dass meine Vermieterin, die Generalin, mich in ihren Kreisen empfahl. So wurde ich ab und zu in die Paläste und Villen der wirklich Reichen gerufen. Ich habe ihren luxuriösen Überfluss und die Scharen von Bediensteten, die sich um sie kümmern, gesehen. Da mein Grossvater, Vitus von Fenzlau, ein Adeliger gewesen war, hatte man mich auch schon zu einem jener üppigen Festmähler und rauschenden Bälle eingeladen, mit denen sich die Petersburger Oberschicht selbst zelebrierte. Der Gegensatz zwischen reich und arm, der in dieser Stadt und im ganzen Land nebeneinander existierte, empörte mich.

      Ich war damals Mitglied in einem der vielen geheimen Lesezirkel, in dem sich Leute aus der Intelligenzija – Juristen, Techniker, Lehrer, Ärzte – zusammenfanden. Wir tauschten untereinander sozialistische Literatur aus und diskutierten darüber, ob eine Veränderung der untragbaren Verhältnisse mit der friedlichen Durchsetzung von Ansprüchen, wie sie Pater Gapon anstrebte, oder nur durch einen revolutionären Umsturz erreicht werden könne. Einig waren wir uns in unseren Forderungen nach Pressefreiheit, nach der Gleichheit vor dem Gesetz und nach einer Volksvertretung. Wir waren in ständiger Angst, es würde der Ochrana, der Geheimpolizei, gelingen, einen ihrer Spitzel bei uns einzuschleusen. Wer denunziert wurde, hatte mit Gefängnis und Folter zu rechnen, mit der Verbannung nach Sibirien und Zwangsarbeit.

      Die Aufrührer, die an jener Versammlung vom 7. Januar dabei waren, wurden von der Menge niedergeschrien. Es kam zu Handgreiflichkeiten, und sie wurden weggejagt. Als wieder Ruhe eingekehrt war, erklärte Pater Gapon, dass am nächsten Sonntag die Sankt Petersburger Arbeiterschaft durch die Strassen der Stadt zum Winterpalast ziehen und dem Zaren die Bittschrift überreichen werde. Es gehöre sich nicht, schärfte er den Leuten ein, Waffen oder rote Fahnen mitzunehmen, wenn man zu seinem Monarchen gehe. «Wir wollen den Soldaten keinen Vorwand geben, uns wegzutreiben!», rief er.

      Als sie jetzt über die Dreifaltigkeitsbrücke zogen – eine von sechs Marschkolonnen aus allen Teilen der Stadt – war zu sehen, dass sie sich an seine Anweisungen hielten. «Ikonen, Kirchenfahnen und Bilder von Nikolaj», staunte Jakob, «und damit glauben sie, den Zaren zu überzeugen?»

      Die Spitze des Zuges bildeten Facharbeiter. Man erkannte sie an ihren Sonntagskleidern. Sie waren die Einzigen, die sich welche leisten konnten. Die Ungelernten, die zu Hungerlöhnen Hilfsarbeiten verrichteten, hatten sich hinter ihren besser bezahlten Kollegen eingereiht. Viele hatten ihre Frauen und Kinder mitgebracht. Es waren arme Menschen, die sich mit dünnen Mänteln und von Motten zerfressenen Schaffellmützen gegen die beissende Kälte schützten. Während sie an uns vorbeizogen, sangen sie Rette, o Herr, dein Volk.

      Eine Frau löste sich aus der Menge und kam auf mich zu. In den Händen trug sie eine Ikone des heiligen Nikolaus von Myra, des Namenspatrons des Zaren. Sie hatte einen wollenen Schal um den Kopf geschlungen, unter dem eine Strähne ihres aschblonden Haars hervorguckte. Ich erkannte sie: Jelisaweta Iwanowna. Vor ein paar Wochen hatte ich ihre zwei Jahre alte Tochter, die an Keuchhusten litt, behandelt. Sie und ihr Mann lebten mit ihren vier Kindern in einer Holzhütte unweit des Hafens. Jelisaweta und ihr Ältester, der zehnjährige Alexej, sortierten Lumpen in einer Papierfabrik.

      «Begleitet Ihr uns zum Winterpalast, Karl Simonowitsch?», fragte sie. Seit sie von mir erfahren hatte, dass mein Vater, ein Emmentaler, der 1866 nach Grusinien ausgewandert war, Simon hiess, nannte sie mich so.

      Ich schüttelte den Kopf. «Nein, und ich befürchte, dass auch Ihr nicht bis dorthin gelangen werdet.»

      Vom Marsfeld her war eine Infanterieeinheit Richtung Dreifaltigkeitsbrücke marschiert Sie besetzte den Brückenkopf, um den Demonstranten den Zugang zum Zentrum der Stadt zu verwehren. Jetzt stellten sich die Füsiliere in zwei Reihen hintereinander auf.

      Der Zug kam ins Stocken. Rund zwanzig Meter vor den Soldaten blieben die Arbeiter stehen. Jemand stimmte die Hymne Bewahre Gott den Zaren an. Ein Bekenntnis zum Herrscher, aus Tausenden von Kehlen. Als das Lied zu Ende war, trat ein Offizier vor die Reihen der Infanteristen. Ich kannte ihn, denn ich behandelte seine Mutter. Er hiess Anatolij Michajlowitsch Maximow und diente als Major in der Armee. «Geht nach Hause, der Zar will euch nicht empfangen!», schrie er. «Wer dem Befehl nicht Folge leistet, muss damit rechnen, erschossen zu werden.» Der Offizier trat zur Seite. «Legt an!», befahl er.

      Die Soldaten aus der ersten Reihe richteten ihre Gewehre auf die Demonstranten. Dann durchschnitt das Kommando: «Feuer!» die Stille. Die Soldaten schossen über die Köpfe der Leute. Man hörte Angstschreie, Mütter zogen ihre weinenden Kinder an sich.

      «Das war die letzte Warnung. Das nächste Mal gibt es Tote. Geht nach Hause!», rief Maximow. Er gab den Befehl vorzurücken. Die Infanteristen standen jetzt nur noch fünf Meter vor der ersten Reihe der Arbeiter und richteten die aufgepflanzten Bajonette gegen sie.

      Ich drängte mich dem Brückengeländer entlang vorwärts zu Anatolij Michajlowitsch. Er erkannte mich. «Was machen Sie denn hier, Herr Doktor? Sie gehören doch nicht zu den Aufrührern?» Er sprach Deutsch.

      «Natürlich nicht. Ich und mein Bruder waren auf dem Heimweg, und es scheint, dass wir hier auf der Brücke