Kaukasische Sinfonie. Werner Ryser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Ryser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783305004911
Скачать книгу
und die in Katharinenfeld nicht zu bekommen waren. Die Diepoldswilers pflegten in jenem Hotel am vornehmen Golowin-Boulevard abzusteigen, in das sie Vitus von Fenzlau kurz vor seinem Tod eingeladen hatte.

      Wie jedes Jahr war auch im Frühling 1881 ein Abend für die Oper reserviert. Dieses Mal besuchten sie das Gastspiel einer französischen Truppe, die mit Bizets «Carmen» durch Osteuropa und Russland reiste. Besonders die Habanera hatte es Sophie angetan. Am Vormittag des nächsten Tages erwarb sie in einem Musikgeschäft die Noten der Klavierversion der Arie.

      Später spazierten sie durch die engen Gassen der Sololaki-Vorstadt. An den hölzernen Säulen der mit Schnitzereien verzierten Balkone der Wohnhäuser rankten Weinreben in die Höhe. «Tbilissi – die vielbalkonige Schönheit», bemerkte Sophie auf Russisch. Simon schaute sie fragend an.

      «So hat Jakow Petrowitsch Polonski die Stadt beschrieben», erklärte sie. «Er war ein Dichter und arbeitete während seines Aufenthalts im Kaukasus für den Gouverneur. Mein Vater kannte ihn. Er hat mir viel von ihm erzählt.»

      Hinter den Häusern des Viertels stiessen sie auf einen jener gewundenen Pfade, die durch einen mit Gestrüpp und Wald bewachsenen steilen Hang hinauf zum Mtazminda führte. «Mta» heisse auf Georgisch Berg und «zminda» heilig, übersetzte Sophie und bat Simon, mit ihr auf den Gipfel zu steigen.

      Schon als Backfisch war sie auf dem heiligen Berg gestanden. Ihr Vater, den sie damals noch für ihren Paten hielt, hatte sie 1869 als Vierzehnjährige zum ersten Mal nach Tiflis mitgenommen. Seit Tagen hatte sie sich auf den Ausflug gefreut, und als es endlich so weit war, hatte sie sich schön gemacht und herausgeputzt. Sie trug ein weisses Musselinkleid mit gestuften Volants und dazu einen breitrandigen Strohhut mit einem hellblauen Band, das, wie sie fand, in einem reizvollen Kontrast zu ihren blonden Locken stand. Mayranoush hatte ihr sogar etwas Wangenrouge aufgetragen.

      Ihre weissen, engen Schnürstiefelchen waren für den steilen Aufstieg zum Mtazminda gewiss nicht das geeignete Schuhwerk, und Sophie war froh, als sie auf halber Höhe, mitten in der Wildnis, eine Kuppelkirche mit Glockenturm erreichten, bei der sie rasten durfte. Der Baron erzählte ihr, das Gotteshaus sei Dawit geweiht, einem jener dreizehn frommen syrischen Väter, die im sechsten Jahrhundert ins Land gekommen waren, um den Ungläubigen mit dem Höllenfeuer zu drohen und ihnen den rechten Weg zu weisen. Im Innern der Kirche blieben sie vor einer Ikone stehen. Auf Goldgrund war ein Heiliger dargestellt. Er trug ein senfgelbes Kleid und einen blauen Überwurf. In der linken Hand hielt er eine Bibel. Er hatte gepflegtes, schwarzes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, und einen akkurat getrimmten Bart.

      «Als käme er direkt aus dem Friseursalon», spöttelte von Fenzlau und behauptete, so habe Dawit natürlich nicht ausgesehen. «Er hauste hier oben in einer Höhle. Ich stelle mir vor, dass er sich nur mit kaltem Wasser waschen konnte. Vermutlich verbreitete er keinen Rosenduft. Sein Haar, falls er welches hatte, hing ihm bis über die Schultern und war verfilzt und gewiss voller Läuse, ebenso der Bart, der die Brust bedeckte. Sein Kleid war bestimmt von minderer Qualität und vielfach geflickt. Möglicherweise ernährte er sich wie Johannes Baptista von Heuschrecken und wildem Honig.» Dann erzählte er Sophie halblaut die Legende von Dawit.

      Einmal in der Woche sei der Eremit hinunter in die Stadt gestiegen, um dort, sehr zum Missfallen der zoroastrischen Priesterschaft, den Heiden das Evangelium zu verkünden. Um sich des Konkurrenten zu entledigen, hätten sie eine Schwangere dazu angestiftet zu behaupten, sie sei von Dawit vergewaltigt worden. «Die aufgebrachte Menge wollte den Heiligen steinigen. Der aber berührte mit seinem Stab den Bauch seiner Anklägerin und fragte den Fötus, wer sein Vater sei. Und dieser, oh Wunder, gab Auskunft, und die Verleumderin gebar auf der Stelle einen Stein. Daraufhin schüttelte Dawit den Staub der Stadt Tiflis von den Füssen und wanderte nach Kachetien, wo er das Höhlenkloster Garedscha gründete und mit seinen Anhängern ein gottgefälliges Leben bis an sein seliges Ende führte.»

      Sophie hatte während der Erzählung den Paten aus den Augenwinkeln beobachtet. Unter seinem dichten Schnurrbart zuckte es verdächtig. Sie wusste, dass er sich über den Gottesmann lustig machte. Zu ihrem Kummer gehörte der Baron zur Schar der Ungläubigen. Luise Hegele, die Frau des Pastors von Katharinenenfeld, bei deren Familie sie während der Wintermonate lebte, hatte ihr ans Herz gelegt, für sein Seelenheil zu beten. Er brauche es. Mit der ganzen Inbrunst, zu der ein junges Mädchen fähig ist, flehte sie Abend für Abend den Herrn Jesus an, die unsterbliche Seele ihres geliebten Paten zu retten.

      Vom Gipfel des Mtazimda bot sich Simon und Sophie ein überwältigender Ausblick. Unter ihnen lag die Stadt, die sich zwischen den Ausläufern des Saguramibergrückens und dem östlichen Teil des Trialetischen Massivs zu beiden Seiten der Kura ausbreitete. Es war ein ungewöhnlich klarer Tag. Im Nordosten waren die schneebedeckten Berge des Grossen Kaukasus zu erkennen. Der Anblick des fernen Gebirges weckte in Simon Erinnerungen an seine Jugend in der Schweiz.

      «Was beschäftigt dich?» Sophie kannte das Gesicht ihres Mannes, wenn seine Gedanken in die Vergangenheit abschweiften.

      «Nichts Besonderes.» Ohne zu wissen, weshalb, hatte sich Simon immer geschämt, ihr zu erzählen, dass er, gerade einmal elf Jahre alt, als elendes Knechtlein zu einer Kleinbauernfamilie in eine Kinderhölle verdingt worden war. Er litt auch unter seiner mangelhaften Bildung. Seine Frau wusste lediglich, dass er nach dem Tod seiner Schwester dank Lydia Amsoldinger, der Pflegemutter seines Bruders, bei zwei gütigen Täufern das Käserhandwerk hatte erlernen dürfen. Auch dass sein Bruder Jakob ihn nach Grusinien begleitete hatte und drei Tagesreisen nördlich von Eben-Ezer ums Leben gekommen war, wusste sie. Simon hatte ihn am Ufer der Kura bei Uplisziche begraben. Damals war in ihm die Angst gewachsen, dass alle Menschen, die er liebte, vorzeitig zu Tode kommen müssten. Er glaubte es noch heute.

      «Gehen wir weiter», sagte er. Sie wanderten über einen mit duftenden Kiefern bewachsenen Kamm zur Ruine der Festung Nariqala. Sie hatte eineinhalb Jahrtausend jedem feindlichen Ansturm getrotzt und war erst 1827 zerstört worden, als ein Blitz die Pulvervorräte der russischen Besatzer in die Luft sprengte. Sophie und Simon suchten sich auf dem alten Gemäuer ein sonniges Plätzchen und schauten über die Türme, Kuppeln und Dächer zur Metechi-Kirche, die auf dem Felsenband über dem linken Kuraufer stand. Sophie lehnte den Kopf an die Schulter ihres Mannes. «Was für Leute mögen dort drüben leben?», fragte sie und wies auf die ineinander verschachtelten Häuser und Häuschen hinter dem Gotteshaus.

      Simon, der oft nach Tiflis fuhr, schwieg. Er kannte das Avlabari-Viertel, in dem Familien in heruntergekommenen Behausungen lebten und von deren Kindern manchmal nicht gewiss war, welcher Mann sie gezeugt hatte. Sophie brauchte nicht zu wissen, dass er dort bis zu seiner Heirat ab und zu Huren aufgesucht hatte, Frauen aus ganz Transkaukasien, die in den engen, schmutzigen Gassen zwischen Handwerkern, Krämern und lärmigen Kneipen ihrem Gewerbe nachgingen und ihren Kunden gegen ein geringes Entgelt für eine Stunde die Illusion gaben, geliebt zu werden.

      Als sie am späten Nachmittag dieses Tages im Salon des Hotels beim Tee sassen, trat Herr von Kutzschenbach an ihren Tisch und fragte, ob er ihnen Gesellschaft leisten dürfe. Er küsste Sophies Hand. Über ihr Gesicht huschte ein rätselhaftes Lächeln. Sie dachte an ihren Vater, der aus Livland stammte. Er hatte sich mehr als einmal über Alexander von Kutzschenbach lustig gemacht. Weil er auf einem brandenburgischen Rittergut aufgewachsen war, hatte er ihn als preussischen Junker bezeichnet und sich darüber mokiert, dass der Mann seinen Schnurrbart à la Wilhelm trug: buschig und an den Enden aufwärts gezwirbelt. «Fehlt nur noch, dass er sich auf beiden Wangen ein Gestrüpp wachsen lässt, wie sein Idol», pflegte er zu sagen. Er spielte damit auf den imposanten Backenbart des Monarchen an. Mit seiner ganzen Deutschtümelei verstehe es Kutzschenbach ausserdem bestens, sich im Gouverneurspalast beim Vizekönig, seiner kaiserlichen Hoheit Grossfürst Michail Nikolajewitsch Romanow, Liebkind zu machen. Das habe ihm ein zinsloses Darlehen eingebracht. Man werde sehen: Am Schluss verleihe ihm der Zar noch einen russischen Adelstitel. So seien sie eben, die Reichsdeutschen: geschmeidig und berechnend.

      «Was für ein Zufall, dass ich Sie hier treffe», wandte sich von Kutzschenbach an Simon. «Ich beabsichtigte nämlich, Sie in den nächsten Tagen aufzusuchen.» Er besitze unweit von Dmanissi einen rund tausend Dessjatinen grossen Wald, den er verkaufen wolle, fuhr er fort. «Er grenzt direkt an