Ich biss auf meiner Lippe herum und dachte darüber nach. Ich wollte Gewissheit, doch er hatte meine Fragen nicht wirklich beantwortet. Er hatte kein Alibi und er wich mir aus. Ich wusste, was Vater davon halten würde. Mr Hamm widmete sich wieder dem Kompost, auf den er brutal einstach. Aus seinem Gesicht war jede Freundlichkeit verschwunden.
Ich wagte noch eine Frage. »Was wissen Sie über Fingerhut?«
»Volle Sonne. Nich zu viel Wasser. Sonst noch was, Miss?« Sein Ton war schroff.
Ja, da war noch was, aber er war eindeutig nicht in der Laune, meine Fragen zu beantworten, also schüttelte ich den Kopf.
»Dann sollten Se besser weiter.«
Ich schlurfte zum Haupthaus. Meine Ermittlungen gingen nicht mit der nötigen Eile voran, doch ich war entschlossen, mir nicht erneut von einer enttäuschenden Befragung den Wind aus den Segeln nehmen zu lassen. Nahe dem Haupteingang fand ich das Blumenbeet, aus dem Miss Judson den Fingerhut abgezeichnet hatte. Die hohen lila Blumen ragten hinter einem Wirrwarr aus Wunderblumen und silbernem Woll-Ziest auf. Da ich wusste, wie überaus giftig diese Pflanze war, machte ich einen vorsichtigen Schritt über die kleineren Blumen im Beet hinweg und suchte nach abgebrochenen Stängeln oder fehlenden Blättern, konnte jedoch nicht feststellen, ob hier jemand Hand angelegt hatte.
»Hallo? Kann ich Ihnen helfen?«, rief eine Stimme mit merkwürdigem Akzent. Eine junge Frau in Beerdigungsschwarz erschien auf der Vordertreppe. »Kleines Mädchen, was treibst du da? Das hier ist kein öffentlicher Park!«
Ich riss schuldbewusst den Kopf in die Höhe und ließ vor Überraschung den Mund offen stehen. Jede Engländerin, von der niedrigsten Putzfrau bis hin zur Queen persönlich, besaß mindestens ein Trauerkleid. Doch diese Dame sah aus, als trüge sie alle von ihnen, und zwar alle gleichzeitig. Enger schwarzer Rock mit schwarzer Spitze; schwarzes Oberteil besetzt mit schwarzen Perlen; schwarzer Zylinder, der weit vorne auf dem Kopf saß und an dem ein kurzer Schleier aus schwarzem Netzstoff hing; dazu ein schwarzes Taschentuch in den schwarz behandschuhten Fingern, mit dem sie mir gerade energisch zuwinkte.
»Wer sind Sie?«, fragte ich. »Was tun Sie auf Redgraves? Wo ist Trudy?«
Schneller als man aufgrund der Röcke erwartet hätte, war die Frau die Treppe herabgestürmt, doch bevor sie mich tatkräftig aus den Blumen zerrte, blieb sie stehen. »Momentchen – bist du die Kleine von nebenan? Dein Vater war auf Tantchens Beerdigung!« Sie schlug sich die Hände vor die Brust. »Du bist das liebe Ding, das die Polizei informiert hat, nicht? Wir sind dir ja so verbunden.«
Noch eine geheimnisvolle Wodehouse-Verwandte? Wo kamen die plötzlich alle her? Im Nachruf hatte etwas von einer Nichte aus Amerika gestanden. »Sie sind Miss Wodehouses Nichte? Warum haben wir Sie noch nie kennengelernt?«
»Ich bin eben erst in England angekommen«, sagte sie. »Und ich bin ihre Großnichte. Nun, eigentlich mehr so etwas wie eine Cousine. Mein Großvater war ihr Cousin. Viel zu kompliziert, um das Kind beim Namen zu nennen, also habe ich sie immer nur Tantchen genannt.«
»Cousine dritten Grades«, stellte ich klar.
»Wenn du nicht clever bist!« Bevor ich wusste, was geschah, hatte sie sich bei mir untergehakt. »Da wir bald Nachbarn sind, gehört es sich nur, dass wir Freundinnen werden. Ich bin Priscilla. Das kleine Hausmädchen hat viel zu viel zum Tee serviert – keine Ahnung, wer das alles essen soll. Du hilfst mir, nicht? Oh weh. Ich habe deinen Namen schon wieder vergessen.«
»Myrtle Hardcastle.«
»Wie schön!«, sagte sie, womit sie exakt der erste Mensch in zwölf Jahren war, der meinen Namen bewunderte.
Wovon redete sie – Nachbarn? Dann entdeckte ich den Schlüsselring an ihrer Taille – das universelle Symbol für die Autorität einer Hausherrin. War diese Person Miss Wodehouses Erbin?
Sie schleppte mich geradezu nach Redgraves hinein, sodass ich kaum selbst achtgeben musste, wohin ich lief, wobei sie einen beeindruckenden Schwall von Geschnatter von sich gab. Nie zuvor war ich im Haus gewesen, abgesehen von einem einzigen Mal, als ich während einer Gartenparty kurz das Foyer betreten hatte – als Mum noch lebte. »Ein Jammer, der Zustand dieser Tapeten!«, sagte sie gerade. »Und die Teppiche sind so durchgetreten.«
Gegenüber einer prächtigen Treppe ragte ein fantastisches, überlebensgroßes Porträt auf, das das Foyer überblickte. Zuerst hielt ich es für eine antike Göttin, eine junge Frau in einer Art drapiertem Kleid, die auf einem thronähnlichen Stuhl lehnte. In einer Hand hielt sie erhoben wie einen Speer einen langen grünen Stängel, gekrönt von einer einzigen schneeweißen Lilie. Doch als ich genauer hinsah, erkannte ich den schroffen Zug um die dünnen Lippen und die andauernd gerunzelte Stirn.
»Ziemlich gut getroffen, findest du nicht?«, sagte Miss Priscilla. »Tantchen machte immer den Eindruck, als wolle sie jemanden erdolchen.«
Das Interessanteste daran war die Lilie. Zum einen war sie enorm groß, fast so groß wie der Kopf der jungen Miss Wodehouse. Und sie war nicht einfach nur weiß. Der Künstler hatte die Blüte mit einem silbernen Schein wie von Mondlicht umgeben und auf jedes leuchtende Blütenblatt fast schon durchscheinende goldene Sprenkel getupft. In der Mitte glühte das brillante Goldgelb einer Kerzenflamme, die Staubgefäße waren schwer von Blütenpollen und jedes Körnchen in perfektem glitzerndem Detail festgehalten.
Das war keine normale Lilie.
Ich sah noch genauer hin. Am unteren Ende des Rahmens war ein Schild aus Kupfer angebracht: minerva & der güldene pantoffel. »Der Güldene Pantoffel?«
»Oh ja«, sagte Miss Priscilla. »Das war Tantchens großes Geheimnis, wusstest du das nicht? Sie widmete ihr Leben dem Versuch, eine legendäre Blume zu erschaffen, von der in einem uralten Buch die Rede ist. Das Ding ist vor Hunderten von Jahren ausgestorben, falls es je existiert hat: die Güldene-Pantoffel-Lilie.« Sie redete leise und mit theatralischer Betonung. Vor Aufregung fröstelte ich.
»Glauben Sie, es ist ihr gelungen?«, fragte ich leise und ehrfürchtig, wie in einer Kirche.
»Keine Ahnung.« Plötzlich war sie kurz angebunden. »Hoffentlich nicht. Immerhin wäre das Ding eine Menge Geld wert. Und wo steckt dieses Geld jetzt, frage ich dich?« Sie kam zurück zum Thema. »Wie sieht es jetzt mit diesem Tee aus?«
Sie führte mich einen langen Gang entlang, hinaus in den Wintergarten, wo auf einem wackligen Weidentisch ein Teller mit laschen Sandwiches (übrig geblieben vom Leichenschmaus) und eine Vase voller – was sonst? – Lilien standen. »Findest du die hier hübsch?«, fragte Miss Priscilla. »Mir erscheinen sie recht gewagt.«
Die fragliche Sorte hatte einen beeindruckenden Orangeton mit einem dunkelbraunen Mittelpunkt: Lilium lancifolium, die Leopardenlilie14. Miss Priscilla deutete mit einem zierlichen Finger ins Zentrum der Blume und stupste die Staubblätter an.
»Vorsicht«, sagte ich. »Das gibt Flecken.«
Während Miss Priscilla den Tee eingoss – den ich wohlgemerkt nicht zu trinken vorhatte, wenigstens nicht, solange ich nicht sicher war, wer auf Redgraves Miss Wodehouse vergiftet hatte –, versuchte ich, die Lilien zu begutachten. Doch Priscilla schob die Vase beiseite und stützte das Kinn in ihre Hände. Sie hatte rosige Wangen und einen Mund, der wie der einer Porzellanpuppe bemalt war, allerdings fiel mir auf, dass ihre Augen blutunterlaufen waren und ihr Gesicht nicht so durch und durch schön war, wie es auf den ersten Blick gewirkt hatte.
»Also«, sagte sie. »Du wohnst nebenan, bist sehr schlau und dein Vater ist Anwalt. Was ist mit deiner Mutter?«
»Sie starb, als ich noch klein war. Und Vater ist Staatsanwalt.«
Ihr Blick wurde interessiert. »Dann seid ihr zwei ganz allein? Dass muss ja einsam sein.«
Wir und Miss Judson, dachte ich glühend. »Eigentlich nicht.« Ich wechselte