Aliens & Anorexie. Chris Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Chris Kraus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783751800051
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      »Ein Mensch, dessen sämtliche Angehörigen unter der Folter umgekommen wären«, schrieb sie später in London, »der selbst lange Zeit in einem Konzentrationslager gefoltert worden wäre. Oder ein Indio des sechzehnten Jahrhunderts, der als einziger der völligen Ausrottung seines ganzen Volksstammes entronnen wäre. Wenn solche Menschen an die Barmherzigkeit Gottes geglaubt haben, so glauben sie nun entweder nicht mehr daran oder ihre Vorstellung davon hat sich von Grund auf verwandelt. Ich habe dergleichen nicht durchgemacht. Aber ich weiß, daß es vorkommt: folglich, welcher Unterschied?«

      Weil sie selbst brillant war, versuchte sie den Wert der Intelligenz zu diskreditieren. »Der intelligente Mensch, der auf seine Intelligenz stolz ist, ist wie ein gerichteter Mensch, der auf seine große Zelle stolz ist …« (London Notebooks)

      Das übergreifende Anliegen von Weils Schreiben, das etwa fünfzehn Bände füllt, die ein halbes Jahrhundert später in den Éditions Gallimard veröffentlicht wurden, bestand darin, die Interaktionspunkte zwischen dem Mahayana-Buddhismus und den frühen Griechen zu finden. Weil sah in der griechischen Kultur die Wurzeln des westlichen Denkens. Dem Antikenforscher Pierre Vidal-Naquet zufolge war ihr gesamtes Verständnis der griechischen Kultur verrückt und ekstatisch, fehlerhaft.

      Weil war viel eher Mystikerin als Theologin. Das heißt, all die Dinge, die sie schrieb, waren Feldnotizen für ein Projekt, das sie an sich selbst ausübte. Sie war eine performative Philosophin. Ihr Körper war Material. »Der Körper ist ein Hebel für das Heil«, dachte sie in ihren Notizbüchern. »Aber wie? Wie gebraucht man ihn richtig?«

      Eine Mystikerin, und insbesondere eine moderne, hat etwas einfach nur Groteskes an sich. 1942 verließ sie New York in Richtung London, wo sie 15 Monate lang lebte und arbeitete, bevor sie im Alter von 34 Jahren einen tuberkularen Hungertod starb. »Sie spricht davon, entsetzliche Schmerzen für andere zu empfinden, für diejenigen, ›die mir gleichgültig oder nicht vertraut sind‹. […] Es ist fast, als spräche aus ihr eine komische Dickens-Figur«, schrieb Graham Greene. Alain, ihr Lehrer am Lycée Henri-IV, bezeichnete Simone liebevoll als Außerirdische. Ihr Spitzname war »der Marsmensch«.

      Bis vor Kurzem behandelten nahezu alle Sekundärtexte zu Simone Weil ihre philosophischen Schriften als eine Art biografischen Schlüssel. Unmöglich, sich ein weibliches Leben vorzustellen, das aus sich heraustreten könnte. Unmöglich, die Selbstzerstörung einer Frau als strategisch zu akzeptieren. Weils Befürwortung der Entschaffung wird als Beweis für ihre Funktionsunfähigkeit gelesen, für ihren Hass auf ihren Körper und so weiter.

      Es gibt eine mittelalterliche mystische Tradition, die das Selbst als »übelriechende Geschwulst« definiert, die zersetzt werden muss. Als Frau, die im mittleren 20. Jahrhundert lebt, geht Weil noch einen Schritt weiter: Es ist nicht nur das Selbst in der zweiten Person, das sie zu zerstören sucht. Sie beginnt mit dem, was ihr am vertrautesten ist: ihrem eigenen.

      In Schwerkraft und Gnade ist für Weil das Ich das Einzige, was wir wirklich besitzen, und deshalb müssen wir es zerstören. »Benutzt das ›Ich‹«, scheint sie uns zuzurufen, »um das ›Ich‹ aufzuheben.«

      Sie will sich verlieren, um größer als sie selbst zu sein. Eine Rhapsodie des Verlangens überkommt sie. Sie will wirklich sehen. Deshalb ist sie Masochistin.

      »Es existiert eine Wirklichkeit«, schrieb sie in London, »jenseits der Welt, das heißt, außerhalb von Raum von Zeit, außerhalb einer jeden Sphäre, die dem Menschen mit seinen Fähigkeiten zugänglich ist. Im Innersten des menschlichen Herzen befindet sich eine Sehnsucht nach einem absoluten Guten, die dieser Wirklichkeit entspricht …«

      Die Forscherin Nancy Huston kritisiert Weil für ihre Leugnung des Körpers. Sie bemitleidet sie, weil sie nie gefickt hat und deshalb an mangelndem Selbstwertgefühl gelitten haben muss. Es ist, als ob Weil, da sich insgesamt nur wenige Frauen überhaupt zu ihrer Zeit geäußert haben, einzig und allein als eine Art Rollenbild beurteilt werden muss, das »ihrer Rasse alle Ehre macht«.

      Weils englischem Herausgeber und Biografen Richard Rees zufolge besteht für sie der Hauptwert der menschlichen Seele im Zustand vollkommener Unpersönlichkeit. Und dennoch, wie ihre Freundin/Feindin Simone de Beauvoir später in Das andere Geschlecht argumentieren wird, lässt sich das weibliche Selbst, weil es vorrangig als Gender definiert wird, niemals unpersönlich wahrnehmen.

      In seiner Weil-Biografie aus dem Jahr 1991 schreibt der Forscher Thomas Nevin: »Ihre intellektuelle Strenge, ihre unnachgiebige, niemals Zugeständnisse machende Art und Weise, für Position zu argumentieren, ihr Suchen nach dem Reinen – all dies funktionierte wie ein Mechanismus, um sich selbst von dem zu distanzieren, wie andere sie sehen könnten – als Frau.«

      In einer außerordentlich herablassenden Einführung zu Mary McCarthys Übersetzung von Weils Monografie Die Ilias oder das Poem der Gewalt merkt ihr Bruder André an, dass die Welt sie vielleicht ein wenig ernster genommen hätte, hätte sie sich nur mal die Haare gekämmt, Strümpfe getragen und Absatzschuhe.

      Ihr Werk sei »abstoßend« schrieb ihr Freund/Feind Georges Bataille sechs Jahre nach ihrem Tod. »Unmoralisch, abgedroschen, irrelevant und paradox.«

      Der bibliografische Quellenband zu Weils Werk, 1992 von der University Press Santa Cruz herausgegeben, beschreibt sie als »anorektische Philosophin«, die sich im Alter von 34 Jahren zu Tode gehungert habe. Weil als dieses brillante verrückte Mädchen. Als unbeholfene Vogelscheuche in flachen Schuhen, als selbsthassende und sich selbst zu Tode hungernde Androgyne.

      Romantische Menschen tendieren dazu, ihr Leben als Raster und Irrgärten zu betrachten, die sich als Netz aus zwar erratischen, jedoch miteinander verknüpften Linien entfalten. Diese wahllos auftretenden Kausalitätsreihen formen, wie sich im Blick zurück feststellen lässt, ein Muster

      Und so, wie die Philosophen Deleuze und Guattari aufgrund ihrer William-Burroughs-Lektüre vermuten, wird die Idee des Zufalls zu einer Art Märchen. Der Zufall als Weg und Mittel, über das Chaos zu triumphieren und eine allumfassende geheime Einheit in der Welt zu entdecken.

      Im Brownie-Handbuch für junge Pfadfinderinnen gab es ein Spiel namens »Pfenningspaziergang«, das wir häufig spielten. Man geht nach draußen und wirft an jeder Straßenecke eine Münze. Bei Kopf biegt man links ab, bei Zahl biegt man rechts ab. Wenn die Fügung ein Zauber ist, kann der Zufall dann tödlich sein? Wenn man nicht weiß, was man tun soll, dann sucht man nach Zeichen.

      Zeichen sind Wunder, die immer dann erscheinen, wenn wir sie am wenigsten erwarten – in Augenblicken, in denen der bewusste Geist aufgegeben hat, abgeschaltet hat. Zeichen erscheinen in einer Vielzahl von Formen: Fundstücke und verlorenes Eigentum, die Worte eines Fremden.

      Im Jahr 1453 veröffentlichte die Londoner Hebammengilde eine Liste von Zeichen, aus denen hervorging, dass die Pest vor der Tür stand. Wenn die Raben sich am Feldrand versammeln und Babys noch vor Dämmerung weinen … Du gehst die Third Avenue in der Nähe der Kreuzung mit der East 53rd Street in Manhattan entlang, nachdem du dich für irgendeinen Job beworben hast. Du kommst an einem randvollen Müllcontainer vorbei und siehst ein Buch. Du öffnest es: Seite 3 – 5 – 3, die Koordinaten, an denen du dich befin dest, und diese Seite verrät dir alles, was du über dein Leben wissen musst. Zeit und Umstände haben dich bis hin zu diesem Punkt der Erschöpfung geführt. Das Tao des Versäumnisses: einen Zustand erlangen zu wollen, in dem du porös sein kannst – mobil, verloren und mittellos und unablässig aufmerksam.

      Für André Breton ist seine Suche nach Schönheit das Gleiche wie sein Werben um die verrückte Nadja. Er sitzt an seinem Schreibtisch, sie befindet sich in einer Pflegeanstalt südlich von Paris namens Perray-Vaucluse. Er spricht davon, einen »Schock« zu erleben, das »Königtum der Stille«.

      Im 20. Jahrhundert erklärten zahlreiche Gruppen hochgebildeter Männer den Zufall zur Grundlage ihrer künstlerischen Praxis. Man Ray fotografiert Robert Desnos zur »Mittagsschlafszeit« im Hauptquartier der Surrealisten, einer Suite in einem Hotel, das dem Vater eines der Surrealisten gehört. Auf dem Foto sieht Desnos aus wie ein wilder und wahnsinniger Typ, seine Augäpfel rollen und streben durch seinen Schädel hindurch zur Decke. (Obwohl er später auch »Pech« haben