Aliens & Anorexie. Chris Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Chris Kraus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783751800051
Скачать книгу
dass sich noch andere, noch bessere Möglichkeiten ergeben würden, erzählte sie mir von Freds Angebot. Ich brüllte vor Lachen, als Delphine die Schweigsamkeit und die exzellenten, sehr weißen und sehr protestantischen Mittelklassemanieren meines guten Freundes imitierte. Zweifel kamen auf, schwanden jedoch gleich wieder, wann immer Delphine morgens schluchzend auftauchte.

      Zu diesem Zeitpunkt war vollkommen klar, dass Delphine dem Film in keiner Weise mehr helfen würde. Die einzige Frage war, wie sich der Schaden in Grenzen halten lassen könne. Gerade als ich endlich den Mut aufzubringen versuchte, sie loszuwerden, traf die neuseeländische Besetzung und Crew aus Auckland ein. In meiner Abwesenheit war Delphine bei Kamerafrau Colleen Sweeney eingezogen. Colleen war Delphines neue Beschützerin geworden, und sie war entsetzt, dass ich eine Waise auf die Straßen von New York City hinauszujagen vorhatte. Gemeinsam überzeugten Delphine-Colleen die Besetzung und Crew, deren Honorare Sylvère und ich zahlten, dass wir herzlose geldgierige Juden und Monster seien.

      Am sechsten Tag der Produktion versuchte Colleen, einen Streik zu mobilisieren, weil Sylvère und ich uns weigerten, für das Catering aufzukommen. Am zwölften Tag verboten mir Colleen und die Assistenzregisseurin Harriet, die gerade erst frisch aus der experimentellen Filmschule kam und 600 Dollar pro Woche bei uns verdiente, in meinem eigenen Auto mitzufahren, das zum »Produktionswagen« erklärt worden war. Jeden Abend cruisten Sylvère und ich an den äußersten Rändern der Bronx umher auf der Suche nach billigen Hotels, sodass Delphine-Colleen in unserer Wohnung allein sein und Ferngesprächsrechnungen anhäufen konnten. Alles Gelächter und Geflüster hörte mit einem Mal auf, sobald ich das Set betrat. Die Überzeugung, mit der ich eine mehrheitlich weibliche Besetzung und Crew angestellt hatte, verwandelte den Film in einen Schulhof-Albtraum. Samstags spielte ich Gastgeberin für Colleen, führte sie in New York aus. Weil wir beide Mädchen waren, hielt sie mir Standpauken. »Ernsthaft«, sagte Colleen, »du solltest echt an deinen ganzen Problemen arbeiten, die du so mit Geldfragen hast.«

      Drei Tage nachdem sie alle nach Hause zurückgekehrt waren, erholte ich mich in East Hampton. Während ich ziellos in den Seitenstraßen herumfuhr, wurde ich am Steuer ohnmächtig. Der Vorderteil meines Autos war vollkommen zerstört. Ich hatte keine Ahnung, was geschehen war.

      Die Autoreparaturen in Neuseeland nicht mit eingerechnet, hat mich Delphine Bower insgesamt um die 6000 Dollar gekostet. Unserer Visa-Kreditkartenabrechnung zufolge blieb Delphine im East Village, kaufte Gourmet-Lebensmittel und Make-up. Doch als ich die Karte sperren ließ, verlor sich ihre Spur. Sie hatte mehrere Tage lang bei Carol Irving gewohnt, einer New Yorker Produktionsmanagerin, stahl Kleidung und Familienschmuck. Im Anschluss mietete sie die Wohnung von Carols Freundin Jayce auf Avenue B und prellte Jayce um zwei Monatsmieten und Telefonrechnungen. Und danach, wer weiß schon? Sie hatte eine leidenschaftliche Affäre mit einem Studenten meiner Freundin Ann Rower und lebte eine Weile lang in seinem Studentenwohnheim. Monate später hörte ich von einer entfernten Freundin, dass Delphine Bower mit einem russischen Dichter zusammengewohnt hatte, der auf tragische Weise in Harlem erschossen worden war. Deshalb nahm ich einfach an, dass Delphine nach Neuseeland zurückgekehrt war. Carol Irving hatte jedoch gehört, dass sie in einer Sendung im Kabelfernsehen über die Kunstwelt gesichtet worden war, und dann hörten wir noch von jemand anderem, dass Delphine nun bei Artforum ein Praktikum machte. Sollte dies etwa Delphine Bowers finaler Triumph sein?

      Delphines Geschichte war apokryph. Monatelang hatte ich gegrübelt, ob ich einen Film über sie drehen sollte. Ich würde einen Privatdetektiv anstellen, um sie ausfindig zu machen. Diesmal würden wir auf Hi8-Video drehen. Durch Interviews mit Delphines Opfern würde ein Porträt der Stadt entstehen. Sie war der Faden, der viele Welten und Charaktere miteinander verbindet. Ihre Geschichte war wie Balzac; sie war wie Fellinis Roma. Ich schrieb einen ganzen Haufen von Förderungsanträgen. Keinem wurde stattgegeben.

      Und so sah ich Thomas Niederkorn also an, nickte und lächelte ausdruckslos. Die Delphine-Bower-Geschichte war mein kostbarster Schatz. Ganz offensichtlich war er enttäuscht.

      Ich ging nicht mehr zum Market zurück. Am nächsten Tag, als der Film vor einem Publikum von vielleicht dreißig Personen oder vielleicht nur dreien lief, ging ich in der Berliner Gemäldegalerie umher. Es gab eine Ausstellung von Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Holocaust, auf eine Art eine recycelte Version des Films Shoah. Interessierte mich nicht. Im Museumsladen gab es den Katalog einer Ausstellung namens The Wonderful World That Almost Was des Künstlers Paul Thek, die schon längst wieder vorbei war. Der Mann hinter dem Schalter erklärte auf Englisch, dass es sich dabei um die großartigste Ausstellung gehandelt habe, die er je gesehen hatte, und dass ich den Katalog doch unbedingt kaufen solle.

      Den 20. ging Lenz durchs Gebirg. […] Es war nasskalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. […] Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Täler warf, und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heranbrausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog, so dass ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Täler schnitt[.]

      Ich ging zurück in das Kristallnacht-Hotel und begann zu lesen.

      Die Chronologie auf dem Umschlag zitierte eine Postkarte, die Thek irgendwann in den späten Siebzigern an den Fotografen Peter Hujar in New York geschrieben hatte: »Das Leben wird länger. Ich rauche Gras, ich verliebe mich ins Leben.« Peter Hujar war jemand, den ich fast sogar gekannt hatte. Er war der Liebhaber, Freund und Mentor von jemandem gewesen, den ich wirklich kannte, dem Künstler David Wojnarowicz. 1986, daheim in New York City und allein, schrieb Paul Thek noch eine Postkarte, diesmal an Franz Deckwitz: »Dieser Tage verbringe ich den Großteil meiner Zeit in dem, was man als ›hochtoxischen‹ Zustand beschreiben könnte. Rauche viel Gras …« Hujar starb 1987 an AIDS. David testete 1989 positiv und starb im Sommer 1992. Thek testete 1986 positiv und starb 1988 an AIDS.

      Und hier nun beginnt die schwierige Aufgabe, noch eine Person zu begreifen.

      Конец ознакомительного фрагмента.

      Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

      Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.

      Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.

/9j/4AAQSkZJRgABAQEBSgFKAAD/4QAiRXhpZgAATU0AKgAAAAgAAQESAAMAAAABAAEAAAAAAAD/ 2wBDAAIBAQIBAQICAgICAgICAwUDAwMDAwYEBAMFBwYHBwcGBwcICQsJCAgKCAcHCg0KCgsMDAwM BwkODw0MDgsMDAz/2wBDAQICAgMDAwYDAwYMCAcIDAwMDAwMDAwMDAwMDAwMDAwMDAwMDAwMDAwM DAwMDAwMDAwMDAwMDAwMDAwMDAwMDAz/wAARCAu4B1QDASIAAhEBAxEB/8QAHwAAAQUBAQEBAQEA AAAAAAAAAAECAwQFBgcICQoL/8QAtRAAAgEDAwIEAwUFBAQAAAF9AQIDAAQRBRIhMUEGE1FhByJx FDKBkaEII0KxwRVS0fAkM2JyggkKFhcYGRolJicoKSo0NTY3ODk6Q0RFRkdISUpTVFVWV1hZWmNk ZWZnaGlqc3R1dnd4eXqDhIWGh4iJipKTlJWWl5iZmqKjpKWmp6ipqrKztLW2t7i5usLDxMXGx8jJ ytLT1NXW19jZ2uHi4+Tl5ufo6erx8vP09fb3+Pn6/8QAHwEAAwEBAQEBAQEBAQAAAAAAAAECAwQF BgcICQoL/8QAtREAAgECBAQDBAcFBAQAAQJ3AAECAxEEBSExBhJBUQdhcRMiMoEIFEKRobHBCSMz UvAVYnLRChYkNOEl8RcYGRomJygpKjU2Nzg5OkNERUZHSElKU1RVVldYWVpjZGVmZ2hpanN0dXZ3 eHl6goOEhYaHiImKkpOUlZaXmJmaoqOkpaanqKmqsrO0tba3uLm6wsPExcbHyMnK0tPU1dbX2Nna 4uPk5ebn6Onq8vP09fb3+Pn6/9oADAMBAAIRAxEAPwD7kHSigdKK6D+pKfwIKKKKDQKKKKACiiig AooooAKKKKACiiigAooooAKKKKACiiigAooooAKKKKACiiigAooooAKKKKACiiigAooooAKKKKAC iiigAooooAKKKKACiiigAooooAKKKKACiiigAooooAKKKKACiiigAooooAKKKKACiiigAooooAKK KKACiiigAooooAKKKKACiiigAooooAKKKKACiiigAooooAKKKKACiiigAooooAKKKKACiiigAooo oAKKKKACiiigAooooAKKKKACii