Aliens & Anorexie. Chris Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Chris Kraus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783751800051
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der gefangenschaft der totalen entfremdung und selbstentfremdung, aus dem politischen und existenziellen ausnahmezustand« entkommen wollen.

      Die Aufzeichnungen, die die Philosophin Simone Weil während des Krieges in ihrem Notizbuch festhielt und die posthum in einem Buch namens Schwerkraft und Gnade erschienen, sind eine Chronik ihrer Bereitschaft, auf Gott zu warten. In dem Film Gravity & Grace, benannt nach Weils Buch, wartet eine Gruppe zu allem entschlossener Wahnsinniger auf Außerirdische, die sie aus einem Kleinstadtgarten in Neuseeland befreien sollen.

      Gegen Mitte des Jahrhunderts, gegen Ende des Jahrhunderts. Immer wenn sich eine meiner befreundeten Rivalinnen in New York nach dem Film erkundigte, sagte ich: »Ich arbeite an einem kleinen Film über Gott.« Das brachte sie normalerweise zum Schweigen.

      Millenniumscountdown: noch 454 Tage.

      Die zweite Vorführung war für 15 Uhr am Donnerstag angesetzt, und jetzt war es Montagnachmittag. Zum Informationspaket gehörte eine Liste aller Einkäufer auf dem Market. Ich fand ein schmuddeliges chinesisches Restaurant am Ku’damm, bei dem ich davon ausging, dass man mich dort den Nachmittag über sitzen lassen würde. Beim Überfliegen der Liste fand ich etwa zwanzig Namen, mit denen ich vage vertraut war. Von diesen hatten zehn mein Werk bereits gesehen, ohne es sonderlich zu mögen.

      Wenn ich auch keine Filme machen konnte, so wusste ich doch immerhin, wie man einen Brief schreibt. Ich nahm das Papier mit Briefkopf und Pressebroschüren heraus und schrieb zwanzig persönliche Briefe per Hand, variierte dabei die Tonlage und mein Verkaufsargument je nachdem, was ich über die Vorlieben des jeweiligen Empfängers wusste. Als dann endlich alle Briefumschläge versiegelt waren, wurde es dunkel, und es schneite.

      Ich zahlte meine Rechnung und ging mit dem Gedanken zurück zum Market, dass ich meine Pakete in die Briefkästen der Einkäufer werfen würde. Doch anders als die American Independents hatten diese Leute keine eigenen Postfächer. Sie konnten nur erreicht werden, indem man die Pakete persönlich in ihrem Hotel ablieferte. Ich holte den Stadtplan hervor. Die Einkäufer waren in sieben verschiedenen Luxushotels untergebracht, die innerhalb eines Umkreises von knapp fünf Kilometern vom Ku’damm entfernt lagen. Gut und gerne hundert Dollar für ein Taxi aufzuwenden, um diese hoffnungslose Mission zu erfüllen, war undenkbar. Und so ging ich los …

      Auf den Bürgersteigen lag der Schnee schon wadentief. Die vollen Straßen jedoch waren frei, und so folgte ich dem matschigen Rinnstein vom Interkontinental zum Regency zum Park Royal und überreichte die Pakete an Conciergen und Portiers. Die Innenstadt wand sich um mich herum wie ein gebördelter Samtschal. Szenen der Macht, des Wohlstandes, der Ambition, aus der Perspektive eines Maulwurfs betrachtet – Flashbacks zu jener Zeit, als ich in meinem ersten Jahr in New York City noch als Kurier arbeitete und mich auf verrückte Weise beschwingt fühlte von dem Wissen, dass das hier etwas ist, was ich nie wieder tun werde.

      Gudrun Scheidecker hatte auf mich gewartet, als ich gegen 23 Uhr zum Kleistpark zurückkehrte. Sie war entzückt, mit einer amerikanischen Filmemacherin unter einer Decke zu stecken, die zum Filmfestival eingeladen worden war. Sie hatte es allen ihren Freunden erzählt. Und ob es nicht unglaublich sei, dass Frauen tatsächlich noch zu unseren Lebzeiten dieselben Möglichkeiten erhalten wie Männer, wenn sie einen Film drehen wollen? Ich musste von meinem ersten Tag auf dem Market berichten – ob ich auf irgendwelche Partys gegangen sei? Mit wem habe ich geredet, und wie sei es gewesen?

      Tagebucheintrag am 19. Januar gegen Mitternacht unter der Decke: »Noch vier Tage von all dem hier.«

      Können Filme mit Bildern beginnen? Wer war es noch mal – war es Flaubert? –, der gesagt hatte, dass er den gesamten Roman Die Erziehung des Herzens geschrieben habe, um die Farbe des blätternden Lacks eines Fensterbretts zu evozieren? Dreißig Jahre lang hatte er rückwärts geschrieben, und ich stelle mir dieses Gelb vor: Senf, der von dem Schimmelgrau des Gebäudes getrübt und vertieft wurde.

      Irgendwann in den späten Achtzigern kam ich auf Besuch zurück nach Neuseeland. Alles hatte sich verändert. Innerhalb von zwei Jahren hatte das Land fünfzig Jahre übersprungen und war von einem verschlafenen Kaff aus den Vierzigern zu einem Außenposten der Neuen Weltordnung katapultiert worden.

      Wie in einem Dritte-Welt-Land war das globale Kapital in Windeseile zugeströmt und hatte diese Transformation quasi über Nacht erwirkt. Was einst die sozialdemokratische Nation einer xenophoben Mittelklasse gewesen war, war nun polarisiert und entweder sehr reich oder sehr arm. Lange Benz- oder BMW-Prozessionen krochen durch die Geschäftsmetropolen. Andere gingen zu Fuß. Nachdem man die Kupferminen in Twizel stillgelegt hatte, wurden die Arbeiterhütten umgebaut und als Wochenend-Ski-Eigentumswohnungen verkauft. Alle Regierungssubventionen für Butter, Milch und Schaffleisch – Nahrungsmittel, die einst als elementare Menschenrechte gegolten hatten – waren aufgehoben worden. Der Markt und die dazugehörige New-Age-Ideologie der Selbst-Aktualisierung hatten die Herrschaft übernommen.

      Meine engste Freundin, die Arbeiterführerin Eunice Butler, war von ihrer Position als Leiterin der neuseeländischen Unfallentschädigungsgesellschaft beseitigt worden. Der gesamte Fonds war aufgelöst worden. Eunice, eine brillante, charismatische, disziplinierte Politikerin, verbrachte nun ihre Tage damit, Arbeitslosengeld zu erhalten, Workshops zu besuchen, auf denen man lernt, wie man ein astrales Medium wird und sich selbst hinterfragt. Was hatte sie falsch gemacht? War es Selbstsabotage? Wie auch der Krebs kann das Scheitern doch nur eine Manifestation der geheimen Wünsche einer Person sein. Die meisten Markenzeichen neuseeländischer Populärkultur waren verschwunden. In den Teesalons der Bahnhöfe gab es nun keine Porzellantassen mehr und kein steinhartes Gebäck. Sie waren allesamt geschlossen oder durch Fast-Food-Ketten ersetzt worden.

      Unterwegs auf dem Highway 2 von Wellington Richtung Norden nach Masterton hörte ich eine Diskussionssendung auf einem christlichen Radiosender. Eine dreifache Mutter berichtete dem selbstgefälligen und sorgenfreien Moderator davon, wie Gott ihr geraten hatte, ihrem kleinen Sohn den Hintern zu versohlen. Genau wie in Rumänien und Guatemala hatte sich auch in Neuseeland der Evangelismus amerikanischen Stils rasend schnell verbreitet. Die Frau hatte jenen vertrauten, quengeligen neuseeländischen Akzent, ihre Stimme erhob sich am Ende eines jeden Satzes zu einer Frage, und ich dachte über diese merkwürdige Amnesie nach: Wie man man selbst bleiben könne und dennoch einen solch außerirdischen Glauben verfechten.

      Ich fuhr in Silverstream ab, um etwas zu essen, bevor der Rimutaka-Gebirgszug begann. Die Stadtgrenzen von Wellington hatten sich verschoben. Einst hatte die Stadt bei Lower Hutt aufgehört, und Silverstream war ein Nest auf dem Land gewesen. Doch jetzt wirkte alles hier sehr unfertig, weil sich zwei Zeitschaften dabei beobachten ließen, wie sie sich verschoben und zusammenbrachen. Es gab noch immer eine Wurstfabrik und Lagerhäuser, einen Metzger und ein Ratenkaufgeschäft.

      Um 18 Uhr war die Stadt geschlossen. Ich fuhr herum und fand eine Take-out-Burgerbar in einer Seitenstraße den Hügel hoch. Drinnen hatten sie eine einzelne Weihnachtslichterkette längs des Fensters aus Spiegelglas genagelt. Und alles, was ich bislang gesehen hatte, gerann in der Traurigkeit dieser Lichter –

      In dem Film Gravity & Grace gerät Ceal Davis, eine neuseeländische Kleinbürgerin in ihren Vierzigern, aus der Spur ihres Lebens und in die Verzweiflung. Sie trifft einen Mann namens Thomas Armstrong, der an fliegende Untertassen glaubt. »Den ganzen Frühling über«, sagt sie zu ihm, »bin ich mir vorgekommen, als stünde ich auf dem Rand von etwas, so als ob sich etwas in meinem Rachen verfangen habe. Ich spüre da eine unglaubliche Traurigkeit, eine gute Traurigkeit jedoch. Ich will nicht, dass sie endet.«

      Für Thomas ist ihre Traurigkeit eine Quelle. Gegen Ende der Landkriege im Jahr 1862 hatte der Māori-Prophet Te Ua am Vorabend des europäischen Sieges eine Vision, dass die Welt mit einer Flut enden würde. Daheim in ihrem Tudor-Haus in Remuera nehmen Außerirdische zu Ceal Kontakt auf, die ihr mitteilen, dass die Welt mit einer Flut enden wird. Ceal weiß nicht recht, ob sie das glauben soll, doch sie tut es.

      Mithilfe einer numerologischen Lesung des Buches Daniel sagte der Bauer William Miller aus Massachusetts im Jahr 1818 voraus, dass die Welt in ungefähr 25 Jahren enden werde. Es gelang ihm, diese Botschaft weiter zu verbreiten, als er 1839 den wohlhabenden Geschäftsmann Joshua Humes bekehrte.