Aliens & Anorexie. Chris Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Chris Kraus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783751800051
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war die Mauer nur noch so hoch, daß man eben drübersteigen konnte. Und da [hat] se sich dann bequemt und is gegangen.

      … Komm ich unten ins Zimmer, da sitzen da die ganzen hohen Tiere da. Die ham gesagt, was ich eben da hinten gemacht habe? Hab ich gesagt: Gar nischt. Und da sagt se: Was heißt gar nischt? Von der Mauer ist ja nichts mehr zu sehen. Mein ick, naja wird wohl einer n paar Steine abgenommen haben. … Naja, ein Wort ins andere, hab ich dann doch gesagt, daß ich’s war. Da wollt se wissen, wer noch bei war. Hab gesagt, na hab ich allein gemacht.

      … Na ist gut, Du kommst in Bunker. Hab ich gesagt, na, ihr kriegt mich aber nicht rin, wa. […] Na ham se gesagt, müssen wir eben d’ Polizei holen. Hab ich gesagt, macht doch, mach ich mir nichts draus.

       … Na hab doch nicht damit gerechnet, daß die wirklich die Polizei holen. Ham se angerufen, kam zwee Polizisten, ham gesagt, ich soll uffstehen. Hab ich nicht gemacht. Hat der eene mich hochgezogen, der andre mir n Tritt gegeben, da lag ich im Bunker, wa. […]

      Und dann entdeckt Meinhof-die-Journalistin die übersinnliche Mobilität der Fiktion. Sie wechselt die Seiten, beginnt sich einzufühlen, aus der Perspektive der Mädchen zu sprechen:

      Der primäre Zusammenhang zwischen Heimleben und späterem Leben ist: weil die Mädchen niemanden und nichts hatten und sich damit nicht abfinden wollten, kamen sie ins Heim. Daran, daß sie niemanden und nichts haben, hat das Heim nichts geändert. Niemanden haben, das bedeutet, daß wenn man von der Arbeit kommt, keine Butter und kein Brot im Haus ist, wenn man nicht selber eingekauft hat. […] Niemanden haben bedeutet mit anderen Worten, daß man in Kneipen und Lokalen rumhängen muß, wenn man jemanden treffen will, das bedeutet Geld ausgeben, das bedeutet, die Nacht durchmachen, das bedeutet, daß man nicht weiß, was das alles für einen Sinn hat.

      Als arbeitende Journalistin und Intellektuelle empfand Meinhof eine gewisse Empathie, hatte jedoch keine direkte emotionale Verbindung zu dem, was sie an diesen Mädchen am meisten beunruhigte, was sie an ihnen als so verlockend empfand: der Mangel an Ambitionen, an Plänen, der schwebende Zustand des Verloren- und Unbedeutendseins. Anders als ihr Zeitgenosse Alexander Kluge, der die in eine Schieflage geratene Jugendliche »Anita G.« in seinem vielgepriesenen Film Abschied von gestern anthropologisierte, war Meinhof bereit, über die Distanz zwischen ihr selbst und den jungen Mädchen nachzudenken, die sie sich zum Thema gemacht hatte. Und dennoch waren sie Welten voneinander entfernt.

      Würde Meinhof wirklich einen sprachlichen Krieg führen, nun da sie dem »bewaffneten Widerstand« beigetreten war? Direkte Aktion als Flucht aus der gehemmten Klaustrophobie eines arroganten, objektivierenden Diskurses. Ein Jahr später hatte sie sich mit Gudrun Ensslin angefreundet, einem Mitglied der RAF, und war federführend an Andreas Baaders Flucht aus dem Tegeler Gefängnis beteiligt. Hier ist der Wortlaut des Kommuniqués, das sie im Anschluss an ihre Flucht verfasste:

      unsere aktion am 14. mai 1970 ist und bleibt die exemplarische aktion der metropolenguerilla. […] die aktion war exemplarisch, weil es im antiimperialistischen kampf überhaupt um gefangenenbefreiung geht, aus dem gefängnis, das das system für alle ausgebeuteten und unterdrückten schichten des volkes schon immer ist und ohne historische perspektive als tod, terror, faschismus und barbarei; aus der gefangenschaft der totalen entfremdung und selbstentfremdung, aus dem politischen und existenziellen ausnahmezustand, in dem das volk im griff des imperialismus, der konsumkultur, der medien, der kontrollapparate der herrschenden klasse, in abhängigkeit vom markt und vom staatsapparat zu leben gezwungen ist.

      Direkte Aktion als Weg, dem Schicksal zu entgehen. Wie jeder terroristische Akt war der Überfall auf das Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen »exemplarisch«, eine Metapher, die von den Rändern aus auf eine sehr viel größere Bildfläche explodierte. Meinhof jedoch lebte nach wie vor innerhalb der engen Grenzen diskursiver Sprache. Es sollte noch sechs Jahre dauern, bis auch sie, als sie in ihrer Hochsicherheitszelle im Gefängnis Stammheim einsaß, »exemplarisch« wurde. Dass sie zu einer Außerirdischen wurde – zu jemandem also, die sich verändert hatte.

      Ein paar Wochen vor ihrem Mord/Selbstmord, schreibt sie in ihrem geheimen Tagebuch in demselben dunklen Tonfall, mit dem sie einst die Mädchen in Eichenhof transkribiert hatte:

      das Gefühl, es explodiert einem der Kopf (das Gefühl, die Schädeldecke müßte eigentlich zerreißen, abplatzen) – das Gefühl, es würde einem das Rückenmark ins Gehirn gepreßt, das Gefühl, das Gehirn schrumpelte einem allmählich zusammen, wie Backobst z. B. das Gefühl, man stünde ununterbrochen, unmerklich, unter Strom, man würde ferngesteuert – das Gefühl, die Assoziationen würden einem weggehackt – das Gefühl, man pißte sich die Seele aus dem Leib, als wenn man das Wasser nicht halten kann – das Gefühl, die Zelle fährt. Man wacht auf, macht die Augen auf: die Zelle fährt

      Mit 42 hatte sie endlich denselben übersinnlichen Raum bezogen, in dem sie sehnsüchtig einst die inhaftierten Teenager-Mädchen beobachtet hatte.

      Einige der Menschen, die an Außerirdische glauben, halten sie für feindliche, sadistische und emotionslose Invasoren, die menschliche Genitalien und Ani mit Hightech-Teleskopspiegeln erforschen. Ein bisschen wie SM, bloß ohne jedes Vergnügen.

      Genau wie im Kino und wie bei SM folgt die Entführung durch Außerirdische einer Art narrativer Struktur in fünf Akten. Das Opfer wird aus der Sicherheit ihres Hauses oder ihrer Nachbarschaft entführt. Sie wehrt sich vergeblich, bis sie unter Drogen gesetzt wird, und dann werden unsägliche Experimente an ihrem Körper durchgeführt. Ihre Identität und ihr Wille werden gebrochen. Schließlich, nachdem sie diese Marter überstanden hat, wird sie mit einer Audienz bei dem verantwortlichen Außerirdischen belohnt.

      Ausnahmslos ist dieser Außerirdische männlich. Die Entführte bemerkt, dass er all den anderen Außerirdischen übergeordnet ist: seine Körpergröße, seine mentalen Fähigkeiten, sein außerordentliches Ausdrucksvermögen. Sie ist dankbar für die Großzügigkeit, die er ihr zukommen lässt, indem er mit ihr spricht. Angesichts der Anforderungen seiner Zeit und der Allwissenheit seines Willens und seines Einflusses, ist seine Aufmerksamkeit ein kostbares Geschenk.

      Der Große Mann, ups, ich meinte natürlich »der verantwortliche Außerirdische«, erfreut und foltert sie sodann mit einer unvollständigen Erklärung. Er erzählt ihr Dinge über außerirdische Technologie und Kultur, die sie niemals wirklich verstehen wird. Er sagt, dass er ihr die Gründe dafür begreiflich machen wolle, warum sie entführt worden sei. Sie sei als Zeugin ausgewählt worden, oder vielleicht deshalb, um mit einem außerirdischen Baby schwanger zu gehen. Er lässt quälend wolkige Andeutungen auf das apokalyptische Schicksal fallen, das die Außerirdischen planen …

      In allen Fällen wird dem Opfer erst durch diese Befragung ein »Wissen« vermittelt. Die sexuelle Begegnung wird im Anschluss dann als Preis erachtet für dieses »Wissen« und nicht als dessen Quelle. Menschen, die sich vor Außerirdischen fürchten, sind extrem puritanisch. Ähnlich einer wiederhergestellten Erinnerung sind die Experimente von Außerirdischen eine beschämende und entsetzliche Qual. Noch nie hat jemand gesagt: »Ich wurde von Außerirdischen entführt und hatte den besten Sex aller Zeiten.«

      Andere, die an Außerirdische glauben, betrachten sie als Freunde. Ausnahmslos ist dieser Kontakt asexuell. Der Zeitrahmen ihrer Begegnungen mit Außerirdischen ist diffus und vertrackt wie ein experimenteller Film.

      Diejenigen, die es nach Begegnungen mit Außerirdischen verlangt, organisieren sich normalerweise in Gruppen, um nach ihnen zu suchen. Einem weitverbreiteten Glauben zufolge fühlen sich Außerirdische von magnetischen Energien angezogen, die größer sind als die Energien einer Einzelperson. Um zu einer Gruppe werden zu können, muss jede Person kleine Stücke ihrer selbst abgeben. In einem Magnetpool vergrößern sich die Stücke. Höhlen im Körper jeder einzelnen dieser Personen, die von den Bruchstücken eines aufgegebenen Egos geschaffen wurden, verwandeln sich in Rezeptoren für die Gruppenenergie, für Außerirdische und für das Dritte Gehirn.

      Auf diese Weise wird die Gruppe zu einem sich selbst perpetuierenden Riesendurcheinander, das seinesgleichen verschlingt und ausscheidet.

      Ganz grundsätzlich sind solche Arten von Gruppen vertrackt,