Aliens & Anorexie. Chris Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Chris Kraus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783751800051
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Jahre war ich mit Gänsehaut und großen Gefühlen in eine Studentin meines Mannes verknallt gewesen, die überzeugt war, dass die Professorengattin zu verführen das Aufregendste überhaupt sei. Doch dann lachte sie mich aus, und nichts passierte.

      Im Sommer zuvor hatte Delphine eine Hauptrolle in einem langen Experimentalfilm von Jason Pauling gespielt. Jason verliebte sich in sie. Sie war lebhafte und taufrische zwanzig Jahre alt. Seitdem hatte sie ihr Studium geschmissen und hatte weder Job noch Wohnung, und als Jason versuchte, ein ernsthaftes Gespräch mit ihr über ihre Zukunft zu führen, sagte Delphine: »Aber das Einzige, was ich wirklich machen will, sind Filme.« Jason hatte gehofft, ich könnte einen Job für sie finden. Sie hatte ein Gespür für Kleidung … vielleicht könnte sie mir ja bei den Kostümen assistieren?

      Als wir darüber sprachen, gewann Delphine mich sofort für sich, indem sie sich über Jasons Aussehen, über seinen Paternalismus und über seinen Film lustig machte. Ich war erst seit zwei Wochen in Auckland, hatte jedoch bereits das Gefühl, als trete ich für irgendeine Wahl an, weil ich ständig irgendwo Gefallen schnorrte und zu allen nett war, weshalb ich Delphines Boshaftigkeit als köstlichen Rausch empfand. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Neuseeland gab mir Delphine das Gefühl, dass ich wirklich mit jemandem klickte.

      Wir trafen uns im Stadtzentrum. In einem trendigen Bistro wartete sie schon auf mich, gelangweilt mit ihren falschen Perlen spielend. Ihr Haarschnitt glich dem von Louise Brooks. Sie trug eine zweireihige Nadelstreifen-Jacke. Delphine wollte, dass ich sie mochte, und ich mochte sie. Sie war wirklich entzückend, aber auf eine interessante Art. Sie performte mit dem sanftesten, bedächtigsten Gespür für Ironie. Delphine Bower war keine eifrige Filmcrew-Mädchen-Sportskanone. Vielmehr spielte sie die demütigende Rolle der »Arbeitssuchenden« mit einem selbstreflexiven Unterton. Während sie sich hin- und herbewegte zwischen einer grausamen Jason-Parodie und einem berührend aufrichtigen Enthusiasmus für mein Drehbuch, sonderte Delphine einen Hauch leidenschaftsloser Abscheu für eine Welt ab, die einfach nicht anders konnte, als sie zu enttäuschen. Sie war ein Genie, das in einer Welt umhergeworfen wurde, die keinen Platz hatte für Arbeiterklassemädchengenies. Und dann war sie emotional auch noch so zerbrechlich und wunderschön –

      Beim zweiten Drink war klar, dass es undenkbar geworden war, Delphine auf etwas so Unbedeutendes wie die Kostüme zu verschwenden. Wir gingen eine Liste von Jobs am Set durch. Keiner passte so richtig. Deshalb konnten wir sie im Grunde nur zur Co-Produzentin erklären. Schnell wurde vereinbart, dass Delphine im Austausch für ihre Arbeit an dem Film in mein Reihenhaus in Grey Lynn ziehen sollte. Sie sollte mein Auto benutzen, und ich würde für all ihre Spesen aufkommen.

      Monatelang war Delphine unfehlbar effizient und ganz einfach eine tolle Person. Ich begann diese »Freundinnen«-Idee von mir zu revidieren. Delphine war ein hübsches Mädchen und keine Baby-Butch. Sie behandelte mich wie eine Mutter, deshalb war Sex zwischen uns vollkommen undenkbar. Doch sie war charmant, leuchtete geradezu. Da ich noch nie ein hübsches Mädchen gewesen war, konnte ich genau wie all die Männer, mit denen ich konkurrierte, nun endlich eines haben.

      Delphine erzählte mir Geschichten, während wir herumtelefonierten. Von Geburt an Waise, wurde sie von einem Paar aus Taranaki adoptiert. Ihr Adoptivvater starb, als sie zwölf war, und Vi, ihre Mutter, bandelte mit einer schwertrinkenden, Flanellhemden tragenden Lesbe namens Di an. Vi und Di zogen die kleine Delphine gemeinsam in einer Wohnwagensiedlung groß und brachten ihr bei, auf Hunde zu wetten. Sie hatte eine Wahnsinnsimitation der beiden drauf, die jeweils von Geschenkpaketen und Briefen ihrer Mutter ausgelöst wurde.

      In den späteren Geschichten von Delphine Bower ging es um die Schicksale all der Jungen, die sich tragisch in sie verliebt hatten. Es gab da einen jungen Medizinstudenten, der sich das Leben nahm, als die sechzehnjährige Delphine ihn zurückwies. (Keiner ihrer Antagonisten trug einen echten Namen, sie waren alle nach ihrem Rang benannt, so wie Charaktere in einer mittelalterlichen Allegorie.) Als Delphine die Neuigkeiten erhielt, weinte sie, bis sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde und Beruhigungsmittel verabreicht bekam. Am dritten Abend brach Delphine ein unverschlossenes Fenster im Sanatorium auf. Sie kletterte das Rankgitter bis ganz nach unten und nahm einen Bus nach Auckland. Delphine war Nadja, sie war Rapunzel. Ich was so sehr hingerissen davon, dass ich vergaß, dass es im Umkreis von 500 Kilometern Taranakis gar keine »Medizinuniversität« gab …

      Inzwischen machte Delphine unglaubliche Fortschritte mit der Organisation des Films. In Auckland war sie von der wohlhabenden Familie ihres Privatschulfreundes Dodge aus Remuera praktisch adoptiert worden. Und während Delphine ein Gespür für die Grenzen des spindeldürren Dodge und seiner neureichen Eltern zu entwickeln begann, war die Familie für unsere Zwecke sehr gut vernetzt. Delphine beschwatzte Dodges Mutter, eine Sonntagsmalerin, die mit einem Investmentbanker verheiratet war, so lange, bis sie uns ihr Haus in Remuera lieh, damit wir es als Hauptdrehort verwenden konnten. Wenn Delphine in Schwung war, dann konnte niemand Nein zu ihr sagen. Sie war genau jene unbekümmert stylische Anarchistin, die ihre Opfer unbedingt sein wollten. Und zuweilen kam dieses Talent gepaart mit einem Sinn für Dankbarkeit, Respekt, Verantwortung. Als die Produktion längst über uns beide hinausgewachsen war und aus einer Horde eifriger Jungprofessioneller bestand, für die sich unser Film in keiner Weise von irgendeinem Film-der-Woche oder nur von einer Lexus-Werbung unterschied, war Delphine meine einzige Vertraute und Verbündete.

      Die ersten Anzeichen, dass etwas schieflief, kamen zwei Tage, nachdem wir einen echten Produktionsmanager anstellten. Delphine besoff sich, parkte auf einem Hügel und vergaß, die Handbremse meines Autos anzuziehen. Der Morris-Minor-Oldtimer krachte in irgendeinen Toyota Celica. Das war natürlich eindeutig ein Test. Liebte ich sie noch? Natürlich liebte ich sie nur noch mehr. Ich beglich die Rechnung von ungefähr 1200 Dollar.

      Alle, die Delphine kannten, begannen mich zu warnen, dass sie gefährlich und inkompetent sei. Und sie begann zu beweisen, dass sie recht hatten. Eines Abends, als Delphine in meinem Wagen unterwegs war, verschwand auf mysteriöse Weise Jason Paulings kostbarster Besitz aus dem Auto – ein Nagra-Aufnahmegerät, das 2000 Dollar gekostet hatte. Und trotzdem, meine einzige Freude bestand darin, sie zu sehen. Als also endlich die US-Gelder bewilligt wurden, mit denen ich den letzten Teil des Films in New York drehen konnte, kaufte ich Delphine ein Ticket für einen Air-France-Flug. United wäre billiger gewesen, war jedoch viel zu geschmacklos.

      Am letzten Abend, den wir gemeinsam in Neuseeland verbrachten, sahen wir Robert Altmans Drei Frauen, Delphines Lieblingsfilm. Ich fand ihn eklig. Als könnten drei Frauen ausschließlich eine familiäre Beziehung zueinander haben, Mutter-Tochter-Schwester. Als sei rein gar nichts anderes denkbar. Und trotzdem lieh ich Delphine an diesem Abend mein Auto. Bis sie fünf Monate später in New York zu mir stoßen sollte, würde sie allein sein, ohne dass jemand dafür sorgte, dass alles mit dem Rechten zuging.

      Zuerst legte Sylvère Einspruch ein, doch er hatte ein Kind und ich hatte niemanden, um die ich mich kümmern konnte. Delphine und der Morris Minor waren die einzigen beiden Dinge aus Neuseeland, die ich wirklich liebte, weshalb es einfach zu passen schien, dass sie zusammenbleiben sollten. Am Abend ihres Abflugs nach New York City betrank sie sich. Ihrer eigenen Schilderung zufolge hielt sie dann um 5 Uhr morgens auf der Queen Street in der Innenstadt an und schlief ein. Als die Polizei kam, ließ sie die Schlüssel in der Zündung. Ich sollte das Auto nie wieder sehen.

      Während ich in Neuseeland noch Delphines geliebte ältere Freundin gewesen war, stellte sich in New York schon bald heraus, dass ich mich in einen weiteren Dodge verwandelt hatte: ein Hindernis für ihre Mobilität und Freiheit. Sie lieh sich Geld, verschwand, tauchte wieder auf und log. Sie häufte enorme Ferngesprächsrechnungen an. Delphines Erfolg darin, aus gelegentlichem Barsex Kapital zu schlagen, in Form von Geld und Schutz, war erstaunlich. Ich hatte angenommen, dass ihre Schmolllippen und ihr Babyspeck, ihr ultrafeminines Geflirte es in New York nicht bringen würden, doch ich lag falsch. Innerhalb von zwei Wochen nach ihrer Ankunft in New York prügelten sich eine Handvoll liebestrunkener Typen mit Jobs um sie.

      Unterdessen blieb mir nichts anderes übrig, als zu sehen, wie ich einen 40-minütigen Teil des Films für 20 000 Dollar gedreht kriege; wo die im Oktober ankommende neuseeländische Besetzung und Crew untergebracht wird; wo ich das Filmmaterial herbekomme, mit dem wir in jenem 1:9-Format filmen können, das die neuseeländische Kamerafrau