Aliens & Anorexie. Chris Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Chris Kraus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783751800051
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dass alles so transparent war. Die gesamte beschissene New Yorker Punkszene war einzig und allein davon motiviert, wie man Karriere machen und wen man ficken konnte. Die Mädchen waren am schlimmsten, weil sie eigentlich nur das Ficken hatten. Wie sie da in ihre Netz-Outfits aus schwarzem Leder gestopft an Clubwände gelehnt standen, waren sie nicht mehr als Pro-bono-Huren, die einfach nur wollten, dass die coolsten Jungs sie liebten. Wenn ich nicht gerade irgendwo oben ohne tanzte, trug ich eine ausrangierte Armee-Uniform. Es war mir vollkommen unerklärlich, wie nur irgendwer ihre Titten für umsonst zeigen konnte. In seinem sackartigen Mantel war Dan immun gegen alles, was mit Sex zu tun hatte, fand Sex im Grunde ekelhaft. Wir lachten uns schlapp, wie all diese Leute so taten, als befänden sie sich in einem Zustand permanenter Rebellion, wo sie doch eigentlich nichts anderes wollten als Anerkennung. Dan hasste all diese Rockstar-Heterojungs. Was uns am meisten bewegte, waren symbolische Gewalt- und Zerstörungsaktionen. Wir waren eine aus zwei Personen bestehende Anti-Sex-Liga.

      Dan war pleite, doch er wollte nach Frankreich zurück. Irgendein Typ, den er kennengelernt hatte, hatte ihm angeboten, ihn an einem Geschäftsplan zu beteiligen, doch er brauchte 500 Dollar im Voraus. Ich arbeitete ein paar extra Tanz-Schichten, doch dann löste sich das Projekt in Luft auf. Als seine Mutter ihm schließlich das Flugticket kaufte, fühlte Dan sich schuldig, dass er einfach so abhaute, ohne das Geld zurückgezahlt zu haben, und so hinterließ er einen Pappkarton voller Zeug, das er durch die ganze Welt geschleppt hatte.

      »Hier, Chris, du kannst diesen Karton behalten«, krächzte er am Morgen seines Abflugs, und dann sollte ich ihn zwanzig Jahre lang nicht wiedersehen.

      Vor langer Zeit lebte in einem Land, das ein wenig wie Japan war, ein Bauer, der sich eine Schwalbe als Haustier hielt. Seine Frau war eine bösartige und eifersüchtige Frau. Sie hielt ihren Mann für einen Narren, weil er den Vogel mit den Resten seiner eigenen dürftigen Mahlzeiten fütterte. Eines Tages, als sie gerade bügelte, flog die Schwalbe durch das Fenster und stieß eine Flasche mit Stärke um. Die Frau nahm ihren Besen und schlug den Vogel und hieß ihn, nie wiederzukommen.

      Als der Mann dies hörte, zog er seine Stiefel und seinen Mantel an und machte sich auf den Weg in den Wald, um die Schwalbe zu suchen. Und nachdem er lange und ermattet durch den Wald gestapft war, hielt er einen Moment lang inne, um zu Atem zu kommen. Und eine Briefschwalbe kam von einem Baum herab, landete auf seiner Schulter und winkte ihn auf eine Lichtung zu. Der Mann zögerte einen Moment lang, doch dann ging er hinüber. Und als er auf die Lichtung trat, sah er ein Haus – ein Strohhaus, besetzt mit Silber und mit Gold. Es war das feinste Haus, das der Mann je gesehen hatte.

      Eine Frau trat aus dem Strohhaus. Sie war groß, mit langem schwarzem Haar und weichen und feierlichen Augen. Sie hieß ihre Köche, ein Bankett anzurichten, sie hieß ihre Kammerfrauen, vor dem Mann zu tanzen. Und nach all dem Essen und Tanzen trat die Frau einen Schritt vor und gab sich dem Mann zu erkennen. Sie sagte: Die Schwalbe ist nur eine meiner vielen Formen. Du warst sehr gütig zu mir. Deine Güte soll dir vergolten werden.

      Ich vermisste ihn. Wochen vergingen, bevor ich endlich dazu kam, den Karton zu öffnen. Und als ich es tat, fand ich eine Reihe seiner Fotos von Patti Smith, Keith Richards, Tom Verlaine. Einige Kunstperlen und Federn. Und dann noch einen Stapel von Büchern: die Schriften des Dadaisten Hugo Ball, einige französische Bücher von Antonin Artaud. Die erste Plon-Ausgabe von Simone Weils Schwerkraft und Gnade, auf Französisch La Pesanteur et la grâce. Die Schriften von Ulrike Meinhof, inklusive ihres auf Französisch als Le Foyer übersetzten Drehbuchs. Ich kaufte ein Wörterbuch und begann zu lesen.

      Obwohl mir nie zuvor der Gedanke gekommen war, dass ich Kunst machen könnte, enthielt Dans Karton alles, mit dem ich später arbeiten sollte. Und zwar die ganzen nächsten fünfzehn Jahre lang.

      Zufall und Magie, Zufall und Klaustrophobie.

      Am Donnerstagnachmittag stand ich auf und ging zurück zum Market für meine Vorführung, die mich 300 Dollar kostete. Zwölf Leute waren da. Die bemerkenswerteste Figur unter den Anwesenden war die Direktorin des Boston Jewish Women’s Film Festival, die sich später die Zeit nehmen sollte, mir eine persönliche Ablehnung zu schicken. Als das Licht ausging, zog ich Bilanz. Wenn man den Flug, das Hotel und die Gebühren für den Market berücksichtigte, kostete mich jeder der Anwesenden, die sich Gravity & Grace ansahen, ungefähr 275 Dollar. Neun gingen noch vor dem Bandwechsel. Mir wurde klar, dass Gravity & Grace wahrscheinlich überall sonst sehr viel erfolgreicher gewesen wäre als hier. Zwei weitere gingen während des zweiten Bandes, und als das Licht wieder anging, war nur noch einer da. Sein Name war Thomas Niederkorn.

      Er stellte sich mir vor als Deutscher, der in New York lebte. Er hatte Film an der NYU studiert. Thomas Niederkorn war 25, sehr gepflegtes Äußeres, sehr elegant auf eine klassenlose Art und Weise. Er sagte, dass er als Produzent von Independent-Filmen arbeite und hier auf dem Market allerlei Meetings habe, um Geld für einen Spielfilm aufzutreiben. Es kam mir vollkommen unglaublich vor, dass er sich den ganzen Film angesehen hatte. Mein Herz hüpfte, als er das Wort Produzent sagte.

      »Ich würde Sie gerne etwas fragen«, sagte Thomas.

      »Ja? – « Ich lächelte erwartungsfroh.

      »Ob Sie womöglich noch Kontakt haben mit einer neuseeländischen Freundin von mir. Sie heißt Delphine Bower.«

      Ich wusste sehr viel über Delphine Bower. Ihr Name war im Abspann von Gravity & Grace als Co-Produzentin gelistet. Angesichts der Umstände von Delphines Mitarbeit bedeutete die Tatsache, dass ich ihr einen Platz im Abspann eingeräumt hatte, einen finalen Akt meines Märtyrertums. So dachte ich jedenfalls –

      »Ahhh, sie war außergewöhnlich«, sagte Thomas. »Ich halte sie für ein Genie. Sie war so schön und so großzügig. Delphine hat mir geholfen, den Pilot für meinen Thriller zu drehen. Sechs Monate lang war sie meine Freundin. Und als sie ging, gingen wir als Freunde auseinander.« Thomas wollte wissen, ob ich sie gesehen hätte.

      Im Stillen rechnete ich. Es war jetzt Ende Januar 1996. Delphine Bower war im November 1993, zwei Tage nachdem wir in New York fertiggedreht hatten, endgültig verschwunden. (Tatsächlich hatte sie das Set bereits am ersten oder zweiten Drehtag verlassen, doch sie kam in der letzten Drehwoche noch einmal zurück, um unter den Darstellern und der Crew ein Bewusstsein dafür zu schaffen, auf welch herzlose Weise sie ausgebeutet wurden, und, oh ja, um weitere 300 Dollar an Ferngesprächsrechnungen anzuhäufen –.) Nun, wenn Thomas seinen Piloten im Herbst 1995 gedreht hatte, dann bedeutete das, dass sich Delphine tatsächlich noch zwei Jahre lang in New York herumgetrieben haben musste. Für eine Waise aus einer Wohnwagensiedlung in Taranaki ohne Green Card oder Arbeit kam dies einem Triumph gleich.

      Perverserweise und völlig leidenschaftslos hatte ich Delphines Bewegungen bis Ende 1994 im Auge behalten. Faszinierend, die Bewegungen eines bestimmten Subjekts, »Delphine B.«, durch konzentrische Kreise der New Yorker Kunstwelt zu kartografieren. Ihre Bewegungen ergaben eine Art Soziogramm. Noch lange nachdem sie auch unsere engsten Bekannten durchgebrannt hatte, sickerten aus Harlem und Tribeca Nachrichten von den Bewegungen des Subjekts zu mir durch. Die Flugmuster von »Delphine B.« waren wie ein freies Assoziationsspiel für eng miteinander verflochtene Gruppen aus Freunden und Persönlichkeiten und Bekanntschaften. Weil sie eine Spur aus Geheimnissen, gestohlenen Objekten, Lügen und unbezahlten Rechnungen hinterlassen hatte, erinnerten sich eigentlich fast alle an sie. Zuletzt hatte ich gehört, dass »Delphine B.« gesehen worden war, wie sie Kopien im Büro von Artforum machte.

      Wenn Delphine in jenem Herbst mit Thomas gearbeitet hatte, dann musste sie neun Monate länger in New York gewesen sein, als sich bislang hatte nachweisen lassen. Ich verspürte eine gereizte Verbitterung, als Thomas ihren Namen erwähnte. Ein Teil von mir war versucht, ihm alles zu berichten.

      Das erste Mal traf ich Delphine Bower in Neuseeland im Januar 1933. Ich war sofort verliebt, und sie war liebenswert. Den gesamten Herbst über, den ich mit meinem Mann Sylvère Lotringer in Easton in Pennsylvania verbracht hatte, um Geld für den Film zu sparen, hatten wir diese Fantasie gehegt, dass ich in Neuseeland dann endlich eine Freundin haben würde. Ich malte sie mir als Baby-Butch mit rosigen Wangen vor, vielleicht mit Motorrad, eine jüngere Version meiner Freundin Darlene.