Aliens & Anorexie. Chris Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Chris Kraus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783751800051
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ein Programm, das Filmen wie diesem unterstützend zur Seite stehen sollte. Von der unternehmungslustigen Lynda Hansen initiiert, kaufte die Delegation der American Independents and Features Abroad jedes Jahr einen ganzen Satz von Plätzen auf dem European Film Market und verkaufte sie dann an ein Dutzend Filmemacher weiter. Der Preis – etwa 3000 Dollar – deckte die Registrierung für den Market und eine Aufführung des Films. Als kostenlosen Bonus sorgte die NYFA dafür, dass jeder Film eine Seite PR-Gequatsche in der American Independents-Broschüre erhält und der Regisseurin auf dem Market der Zugang zu »dem Stand« ermöglicht wird, was im Grunde nur bedeutete: Zugang zu den Nachrichtenfächern der Produzenten, die diese Fächer wiederum, wie sich in meinem Fall erwies, überhaupt nicht nutzten.

      In diesem Januar 1996 hatte ich nun bereits seit zweieinhalb Jahren aus meinem Koffer gelebt, war unablässig damit beschäftigt, Geld zur Finanzierung des Films aufzutreiben und meinen Ehemann Sylvère Lotringer – ein distinguierter europäischer Intellektueller – für mich zu prostituieren. Einmal war ich überzeugt, mich nun endlich vollkommen der reinen Verschwendung unterworfen zu haben, die dieser Film darstellte, als ich 350 Dollar für eine einzige FedEx-Sendung ausgab, mit der ich 16-mm-Filmbänder von Neuseeland aus, wo das Versprechen einer kostenlosen Labor-Verarbeitung nicht eingehalten worden war, nach Toronto sandte, wo die nötigen Veränderungen immerhin nicht allzu viel kosteten. Und dennoch hatte ich das Gefühl, dass dies nun noch immer nicht alles war. Einer Abwärtsspirale so weit wie möglich zu folgen hat etwas Symmetrisches. In L. A. half mir meine Freundin Pam Strugar dabei, einen Haufen handgemachter Pressebroschüren anzufertigen – ich erinnere mich an eine Diskussion über die Farbe der Büroklammern –, und also schickte ich der NYFA einen Scheck, kaufte ein Flugticket und machte mich auf den Weg.

      Weil die 16 kg schwere Nullkopie von Gravity & Grace im Grunde unersetzbar war, nahm ich sie und eine Tasche Pressebroschüren mit ins Flugzeug. Und das war die richtige Entscheidung gewesen, weil nämlich die Fluglinie mein Gepäck in Heathrow verlor, während ich auf meinen Anschlussflug nach Berlin-Tegel wartete, der verschoben worden war. Es dauerte drei Tage, bis das Gepäck wieder auftauchte.

      Nach einer 24-stündigen Reise trat ich mit dem Film und ganz ohne Winterkleidung in die kalte und bleierne Januarluft hinaus. Ich hatte ein Stück Papier mit der Adresse und Telefonnummer der Gelegenheitsfreundin eines Radioproduzentens aus Los Angeles, den ich kaum kannte. Bei ihr sollte ich unterkommen. Gudrun Scheidecker erwartete mich. Wir hatten einmal telefoniert. Sie hatte mal einen Sommermonat lang mit dem Radioproduzenten zusammengewohnt und betrachtete meinen Besuch unerklärlicherweise nun als Gelegenheit, ihre Schuld zu begleichen. Ich hatte mich auf dieses Arrangement gestürzt, weil der Wechselkurs zwischen dem US-Dollar und der Deutschen Mark so niedrig war. Ich wusste inzwischen längst alles über die Wechselkurse ausländischer Währungen.

      Am frühen Abend des 18. Januar also nahm ich mit der Nullkopie und den Pressebroschüren unterm Arm ein Taxi vom Flughafen zu Gudrun Scheideckers Wohnung in einem zentral gelegenen Viertel namens Kleistpark. Ich trug nichts als ein Sweatshirt über meinen Reiseklamotten.

      Weil wir beide Mädchen waren, berichtete mir Gudrun Scheidecker alles über ihr Leben.

      Obwohl sie, wie sie selbst schon bald betonte, sehr viel jünger aussah, war Gudrun Scheidecker 48 Jahre alt. Sie war nie verheiratet gewesen, hatte jedoch zwei Liebhaber, deren Existenz sie beiden jeweils verheimlichte. Das klang kompliziert, folgte jedoch einem exakten Zeitplan: mit dem einen traf sie sich immer montags und donnerstags; mit dem Zweiten samstags und mittwochs, und an den übrigen Abenden schlief sie allein.

      In Europa stehen bestimmte Formen gegenkultureller Zeit still. Gudrun Scheidecker sprach mehrere europäische Sprachen und beschrieb sich als Gymnasiallehrerin und Reisende. Ihre Stelle ermöglichte ihr, regelmäßig unbezahlten Urlaub zu nehmen, weshalb sie immer nur gerade lang genug arbeitete, bis sie wieder aufhören und ein Jahr lang reisen konnte. Die Stadt Berlin gab sich längst nicht genug Mühe, die Gudrun Scheideckers aus Vierteln gehobener Preisklasse wie Kleistpark herauszuspülen: Sie brüstete sich damit, dass sie in dieser ungeheizten, mietgeschützten Dreizimmerwohnung mit hohen Decken nun schon seit fast dreißig Jahren wohnte.

      Plötzlich schüttelte Gudrun Scheidecker ihr gepflegtes langes braunes Haar und fragte mich, ob ich die Künstlerin Sophie Calle möge. »Hm, ich glaube schon«, sagte ich. »Ich liebe sie«, quietschte Gudrun, »und zwar, weil sie genau wie ich ist!«, und dann erzählte sie mir alles über das neue »Hobby«, dem sie nachging, um sich in den Jahren aufzumuntern, die sie nicht auf Bali oder Sumatra oder Fidschi verbringen konnte: »Erinnerst du dich an das Projekt, das Sophie mit ihrem Adressbuch gemacht hat? Nun«, sagte sie, »manchmal macht es mir Spaß, draußen herumzugehen und nach gutaussehenden Männern zu suchen. Ich teste, wie lange ich ihnen folgen kann, ohne dass sie mich sehen.«

      Ich sah sie erschrocken an: eine schlaksige Frau in Stiefeln und Jeans, mit handgestricktem Pullover und den vollen, dunklen Lippen und der seidigen Haut einer 28-Jährigen. Mit fast fünfzig hatte Gudrun Scheidecker keinerlei Vergangenheit, war nicht gebunden, hatte keinen Beruf, keinen Besitz und nichts vorzuweisen als ihr jugendliches Aussehen. Interessanterweise fühlte nun auch ich mich wie verjüngt von dem Schauspiel dieser Gudrun. Wenn man jung ist, betrachtet man ältere Frauen, als seien sie Chiffren. Chiffren, die man lieber nicht decodieren möchte, weil man ahnt, dass man die eigene Zukunft zu Gesicht bekommen könnte. Ihre Niederlagen und Kompromisse sind so offenkundig. Man fragt sich, ob sie bemerken, dass man ihre Gesichter studiert, während sie sprechen: das hängende Fleisch um den Mund herum und auf der Stirn, die schweren, fragilen Augenlider, man fragt sich: Könnte ich das sein? Vage Ahnungen eines Mädchens, das überzeugt davon ist, dem Schicksal trotzen zu können, obwohl sie nur allzu gut weiß, dass die Frau, die sie sieht, einst auch einmal ein Mädchen war … Der Unwille, dann noch weiter darüber nachzudenken, wie man letztlich unweigerlich von hier nach dort gelangen wird. Beziehungsweise, genauer gesagt, der Unwille, sich die Ereignisse auszumalen, die einen in den bevorstehenden zwanzig Jahren noch entstellen werden …

      Es war bereits dunkel geworden, und es hatte zu schneien begonnen. Gudrun Scheidecker half mir, meine Sachen zu verstauen. In der Wohnung war es kalt. Das Zimmer, in dem wir gesessen hatten, Gudruns Schlafzimmer, wurde von einem kleinen Kohlenofen aus Keramik geheizt. Weil das andere Zimmer, das Gästezimmer, überhaupt nicht geheizt wurde, gab sie mir zwei Wolldecken, als sie mir eine gute Nacht wünschte.

      Am nächsten Morgen drückte Gudrun mir eine U-Bahn-Karte in die Hand und wünschte mir viel Glück. Es war Montagmorgen. Ich nahm die U-Bahn bis zum Ku’damm, gegenüber vom Zoo. Ein riesiges Vordach am Gebäude, in dem sich das Hauptquartier der Berliner Filmfestspiele befand, verkündete die Weltpremiere, morgen Abend, eines Action-Films mit Sharon Stone. Der European Film Market war in einem vierstöckigen Bürogebäude in der Nähe untergebracht, das man für diese Woche in ein Messezentrum mit sechs Vorführsälen, 340 Informationsständen und 6000 hungrigen Medienprofessionellen verwandelt hatte.

      Der Stand der American Independents-Delegation befand sich in einer hinteren Ecke in der Nähe des Kodak-Film-Stands auf dem dritten Stock. Gordon Laird, der Koordinator dieser »Delegation« der New York Foundation for the Arts, den ich noch nie getroffen, mit dem ich jedoch am Telefon gesprochen hatte, überreichte mir ein Informationspaket und einen Zeitplan, dann drehte er sich um, um jemand Wichtigen zu begrüßen.

      Na ja, ich musste nirgendwo sein und hatte nichts zu tun, also lehnte ich mich an den Stand und blätterte in den Broschüren. Ich fand eine Liste mit Vorführzeiten für die zwölf Filme der Delegation. Ich hatte bereits das Gefühl, dass der richtige Zeitpunkt von großer Bedeutung war, es gab Tausende von Vorführungen, und Gravity & Grace war für 9 Uhr am Freitagmorgen eingeplant, dem letzten Tag des Market. Ich ging davon aus, dass die Leute erst gegen 11 Uhr in die Messehalle zu stolpern beginnen würden, wenn überhaupt, und zwar nach einer oder gar mehreren wilden Abschlusspartys, zu denen ich, wie ich feststellte, ebenfalls nicht geladen war. Und dass die Partys am allerwichtigsten sind, wissen ja alle. In Rotterdam beim Cinemarket vor zwei Jahren war ich überhaupt nur deshalb an ein paar Meetings gelangt, weil ich mich besoffen und dann mit einem ehemaligen Philosophen geflirtet hatte, der nun als Produzent arbeitete und dem ich erzählte, ich sei die Großnichte des Satirikers Karl