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Der Vorteil der teleologischen Ermittlung der GoB besteht darin, dass bei der Ableitung von Rechnungslegungsregeln möglichst vielfältige Aspekte berücksichtigt werden. Ihr Nachteil liegt darin, dass unterschiedliche Lösungsvorschläge über den Inhalt der GoB erarbeitet werden. Dies führt dazu, dass bei vielen Sachverhalten über die Behandlung im handels- und steuerrechtlichen Jahresabschluss unterschiedliche Auffassungen vertreten werden, ohne dass ein intersubjektiv nachprüfbarer Maßstab zur Verfügung steht, anhand dessen gemessen werden kann, welcher Lösungsvorschlag der „Richtige“ ist. Dieses Ergebnis ist zwar unbefriedigend, es lässt sich aber nicht vermeiden. Die mit der Aufstellung eines Jahresabschlusses vorgenommene Unterteilung der Gesamtlebensdauer eines Unternehmens in einzelne Teilabschnitte lässt sich niemals willkürfrei vornehmen.[1] Die einzelnen GoB schränken jedoch den Ermessensspielraum des Bilanzierenden ein. Im Steuerrecht wird durch eine noch stärkere Betonung des Objektivierungsgedankens (Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit und Tatbestandsbestimmtheit, § 38 AO) der Gestaltungsspielraum des Bilanzierenden weiter eingegrenzt. Dennoch wird auch bei einer Einschränkung des Maßgeblichkeitsprinzips häufig für einen konkreten Bilanzierungssachverhalt keine eindeutige Lösung gefunden. Durch eine stärkere Betonung des Objektivierungsgedankens lässt sich zwar im Steuerrecht der Ermessensspielraum des Bilanzierenden reduzieren, aber niemals vollständig aufheben.
Anmerkungen
Statt aller Rieger, Einführung in die Privatwirtschaftslehre, 3. Aufl., Erlangen 1984, S. 236–238.
4. Verhältnis der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung zur Einblicksforderung
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Die Einblicksforderung, die in Anlehnung an den angelsächsischen Sprachgebrauch auch als Grundsatz des True and Fair View bezeichnet wird, leitet sich aus der Aussage ab, dass der Jahresabschluss einer Kapitalgesellschaft ein den wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens–, Finanz- und Ertragslage zu vermitteln hat (§ 264 Abs. 2 HGB). Für Einzelunternehmen und Personengesellschaften wird gefordert, dass der Jahresabschluss einen Überblick über die Lage des Unternehmens vermitteln soll (§ 238 Abs. 1 HGB).
Weitaus gewichtiger als die rechtsformabhängigen Formulierungsunterschiede ist die Frage, in welchem Verhältnis die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung zur Einblicksforderung stehen. Der Einblick in die wirtschaftliche Lage eines Unternehmens ist nach § 264 Abs. 2 HGB nur insoweit zu vermitteln, als dies „unter Beachtung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung“ möglich ist. Nach der allgemein vorgenommenen Auslegung dieser Vorschrift bedeutet dies, dass die konkreten gesetzlichen Einzelregelungen und die (allgemeinen) Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung der Einblicksforderung vorgehen. Folgt man dieser traditionellen Interpretation, besagt die Einblicksforderung lediglich, dass sämtliche Bilanzierungs- und Bewertungsentscheidungen im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften zu treffen sind. Bei dieser Sichtweise bildet die Einblicksforderung nicht die allgemeine Leitlinie, an der sich die Aufstellung eines Jahresabschlusses zu orientieren hat, vielmehr ist sie lediglich subsidiär anzuwenden.[1]
Durch die subsidiäre Anwendung der Einblicksforderung ist es nach deutschem Bilanzrecht nicht zulässig, die Bilanzierung und Bewertung so zu gestalten, dass sie ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens–, Finanz- und Ertragslage vermitteln, wenn dadurch gegen den Wortlaut einer bestimmten Vorschrift verstoßen wird.
Beispiel:
Die Anschaffungskosten eines unbebauten Grundstücks belaufen sich auf 500 000 €. Zwischenzeitlich ist sein Wert auf 2 000 000 € gestiegen. Der Ausweis des aktuellen Verkehrswerts von 2 000 000 € würde zwar der Einblicksforderung besser gerecht. Nach § 253 Abs. 1 S. 1 iVm § 252 Abs. 1 Nr 4 HGB bilden aber die Anschaffungskosten des Grundstücks die Wertobergrenze. Deshalb ist der Ansatz des höheren Tageswerts unzulässig.
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Nach der zurzeit vorgenommenen Interpretation der gesetzlichen Regelung wird die Bedeutung der Einblicksforderung noch weiter eingeschränkt. Wahlrechte und Ermessensspielräume müssen nicht so ausgeübt werden, dass der Jahresabschluss die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage am besten widerspiegelt. Die Unternehmen können sich vielmehr für jeden Wert innerhalb der gesetzlich zulässigen Bandbreite entscheiden. Ergebnis der herrschenden Meinung ist, dass die Einblicksforderung für die Praxis der handelsrechtlichen und der steuerrechtlichen Rechnungslegung fast keine Bedeutung hat. Es handelt sich nahezu um eine Leerformel. Durch den Vorrang der (speziellen) Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung vor der (allgemeinen) Einblicksforderung wird gegen die Informationsfunktion der externen Rechnungslegung verstoßen. Dies gilt nicht nur für die Handelsbilanz, sondern auch für die Steuerbilanz. Damit verbunden ist, dass die Zahlungsbemessungsfunktion – Ermittlung der Bemessungsgrundlage für gewinnabhängige Zahlungen (Ausschüttungen, Erfolgsbeteiligungen, Ertragsteuern) – höher gewichtet wird als die Informationsfunktion.
Im internationalen Bereich wird die Bedeutung der Einblicksforderung demgegenüber wesentlich höher gewichtet, weil entweder gefordert wird, dass Wahlrechte und Ermessensspielräume so auszuüben sind, dass die Einblicksforderung nicht verletzt wird, oder weil die Einblicksforderung als Generalnorm interpretiert wird, aus der die konkreten Bilanzierungs- und Bewertungsentscheidungen abzuleiten sind (so insbesondere nach den US-GAAP). Nach Ansicht des EuGH bildet der Grundsatz der Bilanzwahrheit und damit die Einblicksforderung bei der Auslegung der in der 4. EG-Richtlinie (heute Rechnungslegungsrichtlinie) enthaltenen Bilanzierungs- und Bewertungsregeln die wichtigste Leitlinie. Diese Aussage ist deshalb so bedeutsam, weil die 4. EG-Richtlinie die Grundlage für die im Handelsgesetzbuch enthaltenen Vorschriften zum Jahresabschluss bildet. Über die Maßgeblichkeit der Handels- für die Steuerbilanz ist die 4. EG-Richtlinie mittelbar auch für die steuerliche Gewinnermittlung bedeutsam.
Anmerkungen
Siehe hierzu auch EuGH vom 3.10.2013 (GIMLE), ECLI:EU:C:2013:632.
5. Systematik der Grundsätze ordnungsmäßiger