(c) Kombinationsansätze
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Mindestens ebenso häufig wie die Einordnung (ausschließlich) als Postulat findet sich die Auffassung, dass es sich bei der Einheit der Rechtsordnung – je nach Situation – sowohl um ein Axiom wie auch um ein Postulat handle:
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Während Savigny anfänglich von einer dem Recht „innewohnenden“ Einheit ausgegangen war, wandte er sich 1840 einem Kombinationsansatz zu, der axiologische und postularische Elemente verbindet: Nach Savigny bildet „[a]llein die Gesammtheit der […] Rechtsquellen […] ein Ganzes, welches zur Lösung jeder vorkommenden Aufgabe im Gebiete des Rechts bestimmt ist.“[167] Um diesem Zweck gerecht werden zu können, müssten zwei Anforderungen erfüllt sein: „Einheit und Vollständigkeit.“[168] Durch „die dem Stoff gegebene wissenschaftliche Form, welche seine innewohnende Einheit zu enthüllen und zu vollenden strebt“, entstehe „ein neues organisches Leben, welches bildend auf den Stoff selbst zurückwirkt, so daß auch aus der Wissenschaft als solcher eine neue Art der Rechtserzeugung unaufhaltsam hervorgeht.“[169] Fehle es an der Einheit, so sei „ein[] Widerspruch zu entfernen“, mangle es hingegen an Vollständigkeit, so gebe es „eine Lücke auszufüllen“.[170]
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Ähnlich stellt sich das Verständnis Philipp Hecks dar: Das Gesetz sei „eine Vielheit von Konfliktentscheidungen, die untereinander zusammenhängen, ein Gefüge von Geboten, kausalen Werturteilen und Wertideen.“[171] „Da alle Gebote zugleich gelten“,[172] sei zwar „eine Einheit im Sinne einer Widerspruchsfreiheit ohne weiteres gegeben“; widersprüchliche Sätze höben sich wechselseitig auf.[173] In einem solchen Falle sei aber die Einheit „durch normative Arbeit herzustellen.“[174]
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Einen Kombinationsansatz vertritt auch Karl Engisch. Zwar führt er aus, dass die Einheit der Rechtsordnung bereits „auf der Gegenstandsseite liegt“[175]. Auch er geht aber davon aus, dass Widersprüche im Gesetz möglich seien, weil der Gesetzgeber nicht immer bewusst handle.[176] Daher erscheine die Einheit der Rechtsordnung „[b]ald […] als Axiom, bald als Postulat juristischer Arbeit.“[177] Der Position Engischs haben sich einige Stimmen in der Literatur angeschlossen.[178]
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Auch Claus-Wilhelm Canaris geht gleichermaßen zwar einerseits davon aus, dass der Systemgedanke „immer auch schon Voraussetzung allen Rechts und allen juristischen Denkens ist“, konstatiert aber auch, dass Einheit und Folgerichtigkeit des Rechts nur „bruchstückhaft […] verwirklicht“ seien.[179] Daher seien Einheit und Folgerichtigkeit des Rechts „nicht nur vorgegeben, sondern immer auch erst aufgegeben, also nicht nur Voraussetzung, sondern auch Postulat“[180]. Dem schließt sich Hans-Ludwig Günther an, der zudem auch auf Engisch und andere Bezug nimmt.[181]
(d) Ablehnende Positionen
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Nur selten wird die Annahme einer Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer Widerspruchslosigkeit nicht nur als vorfindlicher Zustand, sondern auch als Postulat angezweifelt. In diesem Sinne äußert sich Julius Hermann von Kirchmann: Es bilde sich „der Stoff des Sittlichen aus zufälligen, unzusammenhängenden, zerstückelten, oft dunklen Geboten verschiedener Autoritäten […]“; „in den sittlichen Gestalten“ träten „diese Lücken und diese Gegensätze der wirkenden Mächte überall hervor[]“. Die Wissenschaft vermöge „deshalb hier trotz aller Mühe und Anstrengung diese Mängel des Stoffes nicht zu überwinden“, anders als in den Naturwissenschaften fehlten „der Zusammenhang und die Einheit“.[182]
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Vor dem Hintergrund einer rein verfassungsrechtlichen Perspektive fordert Dagmar Felix „den Verzicht auf die Argumentationsfigur der Einheit der Rechtsordnung“, weil ihr die notwendige verfassungsrechtliche Relevanz fehle.[183] Bedeutung komme ihr lediglich im Umweltstrafrecht zu.[184] Ebenfalls gänzlich verworfen wird die Einheit der Rechtsordnung von Friedrich Müller[185] auf Grundlage seiner Ablehnung einer Einheit der Verfassung.[186]
(2) Herleitung
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Ebenfalls nicht einheitlich beantwortet wird die Frage, worin der Geltungsgrund der Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer Widerspruchslosigkeit besteht.
(a) Herleitung aus der Rechtsidee bzw. dem Rechtsbegriff
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Zum Teil wird die Einheit der Rechtsordnung aus der Idee des Rechts selbst abgeleitet:[187]
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Laut Rudolf Stammler stehen „[d]ie reinen Formen der Rechtsgedanken […] in einem unbedingt einheitlichen Zusammenhange […].“[188] Diese Einheit werde „unter dem Begriffe des Rechts überhaupt“ gebildet,[189] auf den alle Einheitsbemühungen in letzter Konsequenz zurückzuführen seien.[190] Stammler versteht seine Einheitsvorstellung dabei als „Einheit des Verfahrens“,[191] geht also von einem Postulat aus, dem mit wissenschaftlichen Methoden nachzukommen ist. Damit versuchte Stammler, den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz zu begründen.[192] Ein ähnliches Modell findet sich bei Joachim Renzikowski.[193]
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Auch nach Somló – der die Einheit der Rechtsordnung als Axiom versteht – folgt „aus dem Begriffe des Rechts“, dass „sämtliche Äußerungen einer höchsten Macht zu einem widerspruchslosen System von Rechtsnormen zu deuten sind“[194]. Denn einzelne Rechtsnormen haben keine isolierte Bedeutung, sondern erlangten Relevanz überhaupt erst aus der Beziehung zu anderen Rechtsnormen.[195]
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Aus einem etwas anderen Ansatz leitet Canaris sein Kombinationsmodell her. Der Systemgedanke wurzle „mittelbar in der Rechtsidee (als dem Inbegriff der obersten Rechtswerte).“[196] Unter letzteren versteht Canaris insbesondere das Gerechtigkeitsgebot, insbesondere in seiner Gestalt des Gleichheitssatzes,[197] sowie die Rechtssicherheit.[198] Aus diesen beiden Prinzipien, die unmittelbar dem Rechtsbegriff entspringen, folge die Aufgabe, „die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit der Rechtsordnung darzustellen und zu verwirklichen“.[199]
(b) Herleitung aus dem Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz
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Vielfach wird der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung mit dem Wissenschaftscharakter der juristischen Arbeit in Verbindung gebracht.[200] Eine Herleitung daraus aber würde sich als zirkelschlüssig darstellen. Der Systemcharakter des Rechts kann sich nur als Voraussetzung des Wissenschaftscharakters der Rechtslehre darstellen, nicht hingegen als dessen Folge.[201] Aus diesem Grund wird – soweit ersichtlich – die entsprechende Position wohl auch nicht vertreten. Vielmehr sprechen einige Stimmen in der Literatur aufgrund der Behauptung mangelnder Systemhaftigkeit des Rechts der juristischen Arbeit den Charakter der Wissenschaftlichkeit ab.[202]
(c) Herleitung aus dem Geltungswillen der Normsetzer
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Clemens Höpfner leitet das Postulat[203] der systemkonformen Auslegung – neben