Ein weiterer verfassungsrechtlicher Einwand könnte sich im Hinblick auf Art. 97 Abs. 1 GG ergeben, wonach die Richter als Träger der rechtsprechenden Gewalt (Art. 92 Hs. 1 GG) „nur dem Gesetze unterworfen“ sind. Aber auch nach der hier vertretenen Auffassung muss sich jeder Rechtssatz aus dem Gesetz deduzieren lassen, weshalb sich kein Widerspruch ergibt. Zudem stellt Art. 20 Abs. 3 GG klar, dass die Rechtsprechung „an Gesetz und Recht gebunden“ ist; diese Differenzierung wird durch die Formulierung des Art. 97 GG nicht in Frage gestellt.[263]
(d) Reduktion der Funktion des Richters auf einen „Subsumtionsautomaten“
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Die Vorstellung Montesquieus vom Richter als bloßem „Subsumtionsautomaten“[264] wird gemeinhin als überholt angesehen.[265] Ebenso wird die Darstellung Phillip Hecks, der das Bild des Richters als Diener des Gesetzgebers zeichnete,[266] als nicht mehr der Verfassungswirklichkeit entsprechend verworfen.[267] Daher könnte sich Kritik aus dieser Richtung ergeben, die einen „Rückfall“ in diese Betrachtungsweise und somit eine Schwächung des grundlegenden Verständnisses des Richterstandes befürchtet, weil der Richter nach der vorgetragenen Auffassung nicht mehr rechtsfortbildend tätig werden kann, da das sich aus dem Gesetz ergebende Recht für jede Frage eine Antwort bereit hält.
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Auch diesem Einwand wird bei näherem Hinsehen der Boden entzogen: Nur weil die Klassifizierung bestimmter Methoden als „Rechtsfortbildung“ unzutreffend ist, bedeutet das nicht, dass sie nach der hier vertretenen Auffassung dem Richter nicht mehr zur Verfügung stehen. Vielmehr handelt es sich danach z.B. beim Analogieschluss und der teleologischen Reduktion um Auslegungsmethoden. Sie sind immer noch notwendig, um den Inhalt der Rechtssätze aus dem Gesetz abzuleiten. Dieser Vorgang ist allerdings ausschließlich ein erkennender und kein schaffender.
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Dem steht nicht entgegen, dass das Bundesverfassungsgericht mehrfach der Rechtsprechung die Befugnis zur „schöpferischen Rechtsfindung“[268] eingeräumt hat. In Bezug auf die Differenzierung von Recht und Gesetz in Art. 20 Abs. 3 GG führt es in diesem Zusammenhang aus, es könne „[g]egenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt […] unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag.“[269] Aufgabe der Rechtsprechung sei, dieses „zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen“, es „in einem Akt des bewertenden Erkennens […] ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren“[270]. Es zeigt sich, dass das Bundesverfassungsgericht ebenfalls davon ausgeht, dass die Rechtsordnung als zusammenhängendes Gesamtkonstrukt Rechtssätze bereitstellt, die sich nicht nur aus einer geschriebenen Rechtsnorm unmittelbar ergeben. Zudem hebt es mehrfach hervor, dass es dabei um einen Akt des Erkennens geht, auch wenn es die Methode als „schöpferisch“ bezeichnet.
Um die eingangs erwähnten zu erwartenden Befürchtungen vollends zu entkräften, sei darauf hingewiesen, dass durch die hier vertretene Auffassung die Rolle der Gerichte nicht geschwächt, sondern vielmehr gestärkt wird: Ordnet man die in Rede stehenden Methoden als Rechtsfortbildung ein, sind ihre Ergebnisse einer revisionsgerichtlichen Überprüfung teilweise entzogen. Handelt es sich hingegen um Methoden der Auslegung, so hat ein methodischer Fehler eine Verletzung des materiellen Rechts zur Folge, welche eine Revision begründen kann.
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Auf der Grundlage der dargelegten Auffassung wird die schwierige – oder gar unmögliche[271] – Ziehung der Grenze zwischen Auslegung einerseits und Rechtsfortbildung andererseits[272] hinfällig. Damit wird auch keineswegs der Primat des Gesetzgebers in Frage gestellt: Verkennen die Gerichte die Rechtslage, weil die Gesetzeslage eine so intensive Auslegung erfordert, dass die Auffassung des Gesetzgebers nur schwer erkennbar ist, behält der Gesetzgeber jederzeit die Möglichkeit, seine bisherige Auffassung im Gesetz klarzustellen oder eine neue zum Ausdruck zu bringen.[273]
(4) Folgerungen aus der Einheit der Rechtsordnung
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Hat die zu erwartende Kritik gegen die hier vertretene Auffassung sich demnach als haltlos erwiesen, darf die Darstellung jedoch an dieser Stelle nicht stehen bleiben. Um das Phänomen der Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer Widerspruchslosigkeit für die weitere Untersuchung nutzbar zu machen, muss erst noch ermittelt werden, welche Folgen es für die Auslegungspraxis hat. Gefordert werden insbesondere ein einheitliches Rechtswidrigkeitsurteil, eine einheitliche Begriffsverwendung sowie die Abstimmung der Wertungen zwischen Normen bzw. Teilrechtsgebieten.[274]
(a) Einheitliches Rechtswidrigkeitsurteil
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Die erste sich aufdrängende Konsequenz der Annahme einer wie hier verstandenen einheitlichen Rechtsordnung ist ein alle Teilrechtsgebiete übergreifendes Rechtswidrigkeitsurteil.[275] Ob ein solches besteht oder überhaupt bestehen kann, ist bislang nicht geklärt.[276] Die Diskussion hierüber wird im Wesentlichen nur noch von Strafrechtlern geführt, weshalb im Folgenden sogleich die typischen damit verbundenen strafrechtlichen Fragestellungen angesprochen werden.
Eng mit dem Problem verknüpft ist etwa die Frage, inwiefern außerstrafrechtliche Normen im Strafrecht als Rechtfertigungsgründe fungieren können.[277] Dies wird sowohl in Bezug auf zivilrechtliche Normen[278] wie auch im Bereich des öffentlichen Rechts diskutiert, wobei die Diskussion sich dort insbesondere um die rechtfertigende Wirkung von verwaltungsrechtlichen Genehmigungen[279] und behördlichen Duldungen[280] dreht. Umgekehrt wird vielfach erwogen, die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe des StGB als Ermächtigungsgrundlage insbesondere für polizeiliches Handeln heranzuziehen.[281] Schließlich trifft man in der Diskussion immer wieder auf die weiterhin ungeklärte[282] Frage, wie Straftatbestand und Rechtswidrigkeit sich zueinander verhalten.
Einigkeit besteht nur dahingehend, dass einerseits straftatbestandliches Verhalten jedenfalls dann gerechtfertigt ist, wenn Normen des Zivilrechts oder der öffentlichen Rechts es explizit erlauben oder gebieten, andererseits das zivil- oder öffentlich-rechtliche Verbot nicht ausreicht, um strafrechtliches Verhaltensunrecht zu begründen.[283]
Darüber hinaus besteht kein Konsens. Insbesondere wird zum Teil die Relativität der Rechtswidrigkeit propagiert, eine besondere „Strafrechtswidrigkeit“ gefordert oder eine dritte Kategorie neben „rechtmäßig“ und „rechtswidrig“ begründet.
(aa) Relativität der Rechtswidrigkeit
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Für eine Relativität der Rechtswidrigkeit wird vor allem angeführt, dass die einzelnen Teilbereiche der Rechtsordnung unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen hätten[284] und deshalb auch an die Feststellung der Rechtswidrigkeit unterschiedliche Folgen knüpften.[285] Dafür spreche auch, dass der Gegenstand einer Rechtswidrigkeitsfeststellung nicht immer gleicher Art sei: Während etwa im Strafrecht das Verdikt der Rechtswidrigkeit in Bezug auf ein bestimmtes Verhalten ausgesprochen werde, bezögen sich andere Rechtsgebiete auch auf nicht von Menschen herbeigeführte Zustände.[286] Des Weiteren könne die Rechtswidrigkeit eines bestimmten rechtlich zu bewertenden Sachverhalts oftmals nur in Bezug auf einen bestimmten zugrunde liegenden Tatbestand[287] bestimmt werden, weshalb eine Verallgemeinerung des Rechtswidrigkeitsverdikts sich verbiete.[288]
(bb) Strafrechtswidrigkeit
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Speziell auf das Strafrecht gemünzt ist die These Günthers von der Existenz einer spezifischen Strafrechtswidrigkeit:[289] Demnach existiere eine von der „allgemeinen“ Rechtswidrigkeit losgelöste Strafrechtswidrigkeit,[290] die diejenigen Verhaltensweisen