ff) Zeit
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Die Zeit ist ein den übrigen bisher genannten Bereichen der Lebenswirklichkeit nur schwer vergleichbares Phänomen. Eine „Akzessorietät“ zwischen Recht und Zeit ist konstruktiv als solche nicht denkbar, weil diese keine Sätze mit bestimmter Aussage formuliert. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Zeit im Recht keine Rolle spielte: Die Existenz von Fristberechnungsvorschriften macht dies ebenso deutlich wie etwa das strafrechtliche Rückwirkungsverbot oder das strafprozessuale Beschleunigungsgebot[105].
gg) Sprache
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Für die Sprache gilt zunächst dasselbe wie für das eben zur Zeit Gesagte: Da Sprache selbst keine Sätze im Sinne normativer Verhaltensvorgaben formuliert, kann keine „Akzessorietät“ im hier verstandenen Sinne zwischen Recht und Sprache bestehen. Dennoch besteht eine enge Beziehung: „Recht existiert nur mit der Sprache“[106]; die Rechtskultur ist ein Teil der Sprachkultur.[107] Die Sprache ist das Medium, mit der Menschen ihre Welt erfassen[108] und dementsprechend auch das Mittel, um rechtliche Inhalte zu transportieren.[109] Andere Möglichkeiten hierzu stehen dem Normgeber nicht zur Verfügung.[110]
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Schwierige Fragen in Bezug auf das Verhältnis von Recht und Sprache entstehen unter anderem im Zusammenhang mit der Differenzierung von Alltagssprache und juristischer „Fachsprache“[111]. Hier findet sich häufig die Forderung, der Gesetzgeber solle „alltägliche Begriffe“ verwenden; häufig liege es nahe, „daß der Normgeber [einen rechtlichen Begriff] in der üblichen Weise verstanden hat und verstanden wissen sollte“, wenn auch diese Vermutung wiederlegbar sei.[112] Der Gesetzgeber solle „denken als Philosoph und sprechen als Bauer“.[113]
Dem stehen jedoch gewichtige sprachphilosophische Gründe entgegen: Der Normgeber möchte zwar eine bestimmte Bedeutung vermitteln, verwendet hierzu aber Begriffe. Beides ist strikt zu trennen: Ein Begriff hat lediglich verweisenden Charakter; er steht symbolisch für eine bestimmte Bedeutung.[114] Welche Bedeutung dies allerdings ist, ergibt sich bei sprachlichen Begriffen nicht automatisch aus dem Begriff selbst, sondern aus dem Kontext seiner Verwendung.[115] Ob etwa z.B. mit dem Begriff „Band“ ein Textilstreifen oder eines von mehreren zusammengehörigen Büchern gemeint ist, ergibt sich erst aus dem Zusammenhang, in dem der Begriff auftaucht. Ebenso ergibt sich erst aus dem Satzkontext, ob mit „Gericht“ eine Speisenzubereitung oder eine rechtsprechende Institution bezeichnet wird. Dieses Phänomen der Mehrdeutigkeit von Begriffen wird als Äquivokation bezeichnet.[116]
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Hinzu kommen weitere Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Bedeutung eines Begriffs. So kann beispielsweise die Art und Weise der Konstruktion zweier Begriffe identisch sein, diese Parallelität sich aber nicht auf die Bedeutungsebene erstrecken. Dies möge ein Beispiel veranschaulichen: Während die „Feuerwehr“ das Feuer bekämpfen bzw. vor diesem schützen soll, so soll die „Bundeswehr“ gerade den Bund und nicht vor dem Bund schützen.[117] Selbst Präpositionen können in unterschiedlichen Satzkonstruktionen unterschiedliche Bedeutungen haben; auch die Verwendung des Plurals eines Begriffes wirkt sich nicht immer identisch auf dessen Bedeutung aus.[118] Wort und Satz bedingen sich gegenseitig.[119]
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All diese Eigenheiten von Sprache gelten auch für Normtexte. Erst aus dem komplexen Zusammenspiel eines Begriffs mit seinem Kontext ergibt sich seine Bedeutung.
Demnach kann – jedenfalls grundsätzlich – dem „Alltagsverständnis“ eines Begriffs bestenfalls indizieller Charakter bei der Bedeutungsfindung zukommen.[120] Die Bedeutung eines Normbegriffs lässt sich nicht isoliert von der Norm bestimmen. An diesem Phänomen kann auch der Normgeber selbst wenig ändern.[121] Bringt er sein Begriffsverständnis zwar im Normgebungsverfahren zum Ausdruck, nicht aber im Gesetzestext selbst, so ist dies für den Rechtsanwender nicht bindend.[122] Die einzige Möglichkeit für den Normgeber, die juristische Begriffsbildung zu erleichtern, ist die Verwendung von Legaldefinitionen. Zwar setzen sich auch solche aus Begriffen zusammen, die ihrerseits auslegungsbedürftig sind.[123] Nichtsdestotrotz sind sie jedenfalls dem Grunde nach zur Präzisierung geeignet. Aufgrund des Vorrangs des Rechts sind sie auch bindend für den Rechtsanwender und stärken somit die Gewaltenteilung.
c) Zwischenergebnis
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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine Akzessorietät des Rechts zu außerrechtlichen Gegenständen grundsätzlich möglich ist; in Bezug auf die Politik ist sie sogar zwingend, wenn auch der Einfluss der Anschauungen des ursprünglichen Gesetzgebers durch den Wegfall der Prämissen seiner Anschauungen in der Umwelt oder die Aktivität eines späteren und politisch anders ausgerichteten Gesetzgebers schwinden kann.
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Bezüglich aller anderen Lebensbereiche kann eine Akzessorietät des Rechts nur durch das Recht selbst hergestellt werden. Dies kann zum einen negativ geschehen, indem das Recht bestimmte Bereiche insoweit nicht erfasst, weshalb zur Entscheidungsfindung in der „Rechts“-Anwendung Rückgriff auf außerrechtliche Erkenntnisse genommen werden muss. Zum anderen kann ein Akzessorietätsverhältnis positiv durch die Normierung einer hier sog. „Öffnungsklausel“ begründet werden. Solche Öffnungsklauseln finden sich in allen Rechtsbereichen und für alle Wirklichkeitsbereiche. Sie liegen immer dann vor, wenn der Normgeber unmissverständlich deutlich macht, dass ein rechtsautonomes Begriffsverständnis ausnahmsweise nicht möglich ist bzw. gerade nicht gebildet werden soll, etwa wenn auf die „Gebräuche des Handelsverkehrs“ Bezug genommen wird. Nicht zwangsläufig eine Öffnungsklausel liegt hingegen vor, wenn eine Norm einen extrem offenen Begriff (wie z.B. „unbefugt“) verwendet. Ein solcher Begriff ist aufgrund des Vorrangs des Rechts zunächst durch Rechtswertungen auszufüllen. Erst wenn dies nicht möglich ist, darf auf außerrechtliche Sätze zurückgegriffen werden. Damit wird nicht nur dem Rechtsstaatsgedanken, sondern auch dem Demokratieprinzip Rechnung getragen.
3. Die Akzessorietät des Rechts zum Recht
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Als zweiter möglicher Gegenstand eines rechtlichen Akzessorietätsverhältnisses kommen neben den verschiedenen Wirklichkeitsbereichen auch andere Rechtssätze in Frage.
a) Gesetzliche Verweisungen (i.w.S.)
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Ein solches Verhältnis besteht offenkundig jedenfalls an den Stellen, an denen gesetzliche Vorschriften selbst unmittelbar auf andere Rechtsnormen Bezug nehmen – auf welche gesetzgebungstechnische Art und Weise das auch geschehen mag. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn § 331 Nr. 3a HGB sich auf vorstehende Regelungen des HGB bezieht. Nichts anderes gilt auch beispielsweise im Falle von § 283b Abs. 1 Nr. 3 StGB, der Verletzungen der Buchführungspflicht „entgegen dem Handelsrecht“ sanktioniert. Hier bestehen keine Zweifel an einer grundsätzlichen (Rechts-)Akzessorietät der betreffenden Norm.
b) Weitergehende Rechtsakzessorietät kraft eines übergeordneten Prinzips der „Einheit“ bzw. „Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“
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