Derartige rechtsgebietsübergreifende Regelungsmechanismen setzen einen übergeordneten allgemeinen Grundsatz voraus, aus dem sie sich ableiten lassen. Ein solches Systemdenken wurde unter vielfältigen Oberbegriffen diskutiert;[124] wohl am häufigsten finden sich in diesem Zusammenhang die Topoi der „Einheit der Rechtsordnung“[125] , der „Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“[126] und der „Folgerichtigkeit der Rechtsordnung“[127].[128]
Die Begriffe der „Einheit“ und der „Widerspruchsfreiheit“ (bzw. „Widerspruchslosigkeit“) der Rechtsordnung werden teilweise synonym verwendet, teilweise aber auch differenziert: Unter „Einheit“ der Rechtsordnung wird zusätzlich die äußere Geschlossenheit und/oder die Lückenlosigkeit[129] der Rechtsordnung verstanden; die Widerspruchslosigkeit stelle insofern nur einen „Ausfluss“ der Einheit der Rechtsordnung dar.[130] Wenn im Folgenden der Begriff der „Einheit der Rechtsordnung“ verwendet wird, dann in dem engeren Sinne, der bei Vertretern einer differenzierenden Begriffsbildung als „Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung“ bezeichnet wird.
Neben den terminologischen Unterschieden besteht auch inhaltlich keine Einigkeit,[131] was die Befassung mit der Thematik zusätzlich erschwert. Die Behauptung Canaris“, der Gedanke der „Einheit der Rechtsordnung“ gehöre „zum gesicherten Bestand rechtsphilosophischer Einsichten“[132], kann jedenfalls als widerlegt bezeichnet werden;[133] es handelt sich keineswegs um ein „nahezu unbestrittenes Dogma“[134].
aa) Die Figur der „Einheit der Rechtsordnung“ in Wissenschaft und Rechtsprechung
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„[J]eder Schriftsteller stellt sich etwas anderes [scil. unter der Einheit der Rechtsordnung] vor“[135], stellte Karl Engisch bereits 1935 fest. An diesem Zustand hat sich bis heute nichts geändert;[136] vielmehr hat das Problem sich verschärft. Hieraus erklärt sich, dass teilweise aus dem (vermeintlich selben) Argument gegenteilige Ergebnisse gewonnen werden.[137]
Wird in Literatur und Rechtsprechung oder sogar auch in Parlamentaria[138] der Topos der „Einheit der Rechtsordnung“ oder einer der Parallelbegriffe verwendet, findet regelmäßig keine inhaltliche Auseinandersetzung statt, was darunter zu verstehen ist und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, sondern er wird schlagwortartig zur Untermauerung der eigenen Argumentation herangezogen[139].[140] Doch auch unter den Autoren, die sich näher mit dem Phänomen der Einheit der Rechtsordnung befassen, besteht bereits dahingehend Uneinigkeit (oder es wird erst gar nicht thematisiert), ob es sich um ein vorgegebenes Faktum handelt oder einen Zustand, den es durch rechtswissenschaftliche Methoden herzustellen gilt. Unklar ist weiterhin, woraus sich ein solcher Grundsatz herleiten lassen könnte. Soweit er als verfassungsrechtliches Postulat begriffen wird, besteht zudem keine Klarheit darüber, ob (nur) der Rechtsanwender oder auch (bzw. sogar ausschließlich) die rechtssetzenden Instanzen adressiert werden.
Nachfolgend wird der Versuch unternommen, die Meinungsvielfalt einer Systematisierung nach Strömungen zu unterziehen:
(1) Einordnung
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Die wichtigste, aber meist vernachlässigte Frage bei einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Einheit der Rechtsordnung ist, ob man es als vorgegebenen Rechtszustand oder als rechtswissenschaftliche Methode versteht.[141] Deutlich wird dies etwa auch bei Karsten Schmidt, wenn er in der Überschrift seines Beitrags zur Einheit der Rechtsordnung die Fragestellungen „Realität?“ und „Aufgabe?“ gegenüberstellt.[142] Neben diesen beiden Extrempositionen existiert auch eine Vielzahl von Kombinationsansätzen, die beide Beschreibungsmöglichkeiten des Phänomens miteinander verbinden.
(a) Einordnung (ausschließlich) als bestehender Zustand
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Der Gedanke, dass das Recht eine organische Struktur bildet, die innere Widersprüche selbst auflöst, fand sich vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei den Vertretern der historischen Rechtsschule:
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So sprach etwa Friedrich Karl von Savigny zunächst noch von der den mannigfaltigen Erscheinungsformen des Rechts „innewohnende[n] Einheit“, die durch wissenschaftliche Methodik aufzusuchen sei.[143] Später revidierte er allerdings seine Auffassung insoweit und ging zu einem Kombinationsansatz über.[144]
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Ebenso behauptete Karl Friedrich Eichhorn eine Einheit des deutschen Rechts.[145] Die deutschen Partikularrechte stünden in einem „inneren Zusammenhang“, weshalb eine Regel, die sich auf die „Gemeinschaft des Ursprungs“ gründe,[146] also aus dem Partikularrecht abgeleitet werden konnte, auch in den Bereichen zur Geltung kommen sollte, in denen es an einer entsprechenden positiv-rechtlichen Regelung fehle.
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Stark von Savigny beeinflusst[147] ging auch Georg Friedrich Puchta davon aus, dass „[d]ie einzelnen Rechtssätze, die das Recht eines Volkes bilden, […] in einem organischen Zusammenhang unter einander [stehen], der sich zuvörderst durch ihr Hervorgehen aus dem Geist des Volkes erklärt, indem die Einheit dieser Quelle sich auf das durch sie Hervorgebrachte erstreckt.“[148] Es sei „Aufgabe der Wissenschaft, die Rechtssätze in ihrem systematischen Zusammenhang, als einander bedingende und von einander abstammende zu erkennen […].“[149] Allerdings begibt sich Puchta in die Nähe eines Kombinationsansatzes, wenn er im Folgenden von der „Wissenschaft als dritte[r] Rechtsquelle“ spricht.[150] Aufbauend auf die Ausführungen Puchtas zeichnet auch Rudolph von Jhering das Bild einer objektiv-idealistischen Rechtseinheit,[151] wobei deren Konsistenz mit Blick auf andere seiner Äußerungen mit guten Gründen bezweifelt werden kann.[152]
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Ein spätes Wideraufleben der Idee einer Einheit der Rechtsordnung als dem Recht immanenter Zustand findet sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Felix Somló:[153] Aus dem „unumstößlich[en] allgemeine[n] Grundsatz, daß die Normen einer Rechtsordnung nur in ihrem systematischen Zusammenhange, also nur als ein Ganzes verstanden und gedeutet werden können, nicht aber aus diesem Ganzen herausgerissen einzeln, jede Norm für sich“[154], folge, „daß es in einer Rechtsordnung eigentlich keine Widersprüche geben“ könne.[155] Widersprechen könnten sich „nur die grammatischen Sätze, in denen die Rechtsnormen zum Ausdruck gebracht werden.“[156] Es könne daher nur „Widersprüche […] im Rechtstext, nicht aber in der Rechtsordnung“ geben.[157]
(b) Einordnung (ausschließlich) als Postulat
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Weithin wird – teilweise verbunden mit expliziter Ablehnung einer Einordnung als Axiom – unter dem Topos der Einheit der Rechtsordnung ein Postulat verstanden, das es auf wissenschaftlichem Wege zu erfüllen gelte.[158] So sei die Einheit der Rechtsordnung „nicht Realität im Sinne eines vorgegebenen Zustands“, müsse aber „als ein dialektischer Prozeß, als ständiges Bemühen, Auseinanderstrebendes zusammenzuhalten, […] gegenwärtig bleiben.“[159] Es könne „[a]ngesichts der Erfahrungen von kollidierenden und fehlenden Normen [die Einheit der Rechtsordnung] nur ein Postulat sein […].“[160] Die „Behauptung der Einheit der Rechtsordnung [scil. als Zustand]“ sei „unhaltbar“,[161] allerdings unterstehe „der Gesetzgeber dem Gebot der Widerspruchsfreiheit“.[162]
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Anders argumentiert Eugen Ehrlich: Der Rechtssoziologe