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Allerdings lässt sich vom Fehlen einer solchen Öffnungsklausel nicht auf die gerenelle Unzulässigkeit der subjektiven Auslegung schließen. Vielmehr ergibt sich aus dem Demokratieprinzip, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG), dass der im Rechtssetzungsverfahren manifestierte (!) Wille des Volkes – im Rahmen des eben Gesagten – auch auf die Phase der Rechtsanwendung fortwirken muss.
bb) Wirtschaft
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Die Wechselwirkungen[76] zwischen Recht und Wirtschaft waren bereits Gegenstand vielfältiger Untersuchungen. Allerdings werden dort regelmäßig andere Blickwinkel eingenommen, als dies vorliegend der Fall ist.[77] So wurde vielfach erörtert, inwieweit das Recht gegenüber der Wirtschaft Steuerungsfunktion ausüben kann.[78] Anderenorts ist Gegenstand der Betrachtung, ob im Recht ökonomische Methoden angewandt werden dürfen,[79] während die sog. „ökonomische Analyse des Rechts“ ökonomische Methoden auf das Recht anwendet.[80] Für die vorliegende Untersuchung kann allerdings nur die Fragestellung relevant sein, welche Auswirkungen die faktische Wirtschaftssituation (und nicht die wirtschaftswissenschaftlichen Methoden) auf das Recht haben kann.
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Eine derartige Einflussnahme ist wiederum in erster Linie im Rechtssetzungsverfahren möglich; wirtschaftliche Entwicklungen geben häufig Anlass zu gesetzgeberischer Tätigkeit.[81] Beispielhaft sei an dieser Stelle nur die Reform des Überschuldungsbegriffs gem. § 19 Abs. 2 InsO als Reaktion des deutschen Gesetzgebers auf die weltweite Finanzkrise genannt.[82] Dass eine Orientierung der rechtssetzenden Instanz an den aktuellen wirtschaftlichen Gegebenheiten notwendig ist, proklamiert auch Lindemann, wenn er im Zuge seiner Bewertung der Wirtschaftsgesetzgebung während und nach dem ersten Weltkrieg den Schluss zieht, „daß nämlich die Wirtschaftsgesetzgebung nur dann wirklich erfolgreich sein kann, wenn sie sich den bestehenden Wirtschaftstendenzen anzupassen vermag“[83].
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Für die Ebene der Rechtsanwendung existieren vielfältige Öffnungsklauseln zur Einbeziehung wirtschaftlicher Umstände:[84] So ist etwa „[u]nter Kaufleuten […] in Ansehung der Bedeutung und Wirkung von Handlungen und Unterlassungen auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen“ (§ 346 HGB), und der Kaufmann hat im Rahmen eines Handelsgeschäfts „für die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns einzustehen“ (§ 347 Abs. 1 HGB). § 359 Abs. 1 HGB nimmt auf den „Handelsgebrauch des Ortes der Leistung“ Bezug. Die in § 74c Abs. 1 S. 1 Nr. 6 lit. a und lit. c GVG aufgeführten Straftaten unterfallen nur dann dem Zuständigkeitsbereich der Wirtschaftsstrafkammer, „soweit zur Beurteilung des Falles besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erforderlich sind“;[85] diese Formulierung setzt die Zulässigkeit einer Einbeziehung wirtschaftlicher Erwägungen gerade voraus.
Diese Beispiele mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass wirtschaftliche Umstände und Betrachtungsweisen vielfach Eingang in die Auslegung von Rechtsnormen finden dürfen; dies gilt vor allem im Anwendungsbereich des Rechts der Handelsgeschäfte.
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Hervorzuheben ist noch, dass vor einer eventuellen Rezeption zu untersuchen ist, ob z.B. Handelsbräuche überhaupt dem Wirklichkeitsbegriff zuzuordnen sind. Häufig ist hier nämlich denkbar, dass bestimmte Anschauungen und Verhaltensweisen bereits zu Gewohnheitsrecht erstarkt und als eigenständige Rechtsquelle auch ohne jede Öffnungsklausel im Rahmen der Rechtsanwendung beachtlich sind.
cc) Technische Entwicklung
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Nicht nur auf die wirtschaftliche, sondern auch auf die technische Entwicklung hat der Gesetzgeber – egal, wie er zu den Neuerungen steht[86] – zu reagieren,[87] wobei er regelmäßig[88] „hinterherhinkt“.[89]
Um diesem Problem entgegenzuwirken, ohne in einer hohen Frequenz die rechtlichen Regelungen novellieren zu müssen (was der Rechtssicherheit abträglich wäre), wird häufig auf private Regelwerke entsprechender Fachverbände zurückgegriffen.[90] Hierfür hält das Recht an vielen Stellen entsprechende Öffnungsklauseln vor: so sind etwa bei Maßnahmen des Arbeitsschutzes „der Stand von Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene sowie sonstige gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen“ (§ 4 ArbSchG) und gem. § 57 Nr. 1 WHG darf „eine Erlaubnis für das Einleiten von Abwasser in Gewässer […] nur erteilt werden, wenn die Menge und Schädlichkeit des Abwassers so gering gehalten wird, wie dies bei Einhaltung der jeweils in Betracht kommenden Verfahren nach dem Stand der Technik möglich ist […]“. Der Begriff des „Stands der Technik“ ist dabei im WHG in § 3 Nr. 11 sowie im BImSchG in § 3 Abs. 6 mittels Legaldefinition näher umschrieben und ausdifferenziert, weshalb er insoweit bereits normativiert ist.
dd) Kultur und Zeitgeist
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Bewusst wird als nächster denkbarer Gegenstand einer Abhängigkeit des Rechts von lebensweltlichen Umständen ein zum Teil von Gegensätzen geprägtes Begriffspaar gewählt: Zwar verbindet die Begriffe „Kultur“ und „Zeitgeist“ die Tatsache, dass sie eine Form von gesellschaftlichem Konsens beschreiben; während aber Kultur ein Phänomen zeitlicher Konstanz beschreibt,[91] ist das zentrale Wesensmerkmal des Zeitgeistes sein steter Wandel.[92] Ob eine bestimmte gesellschaftliche Anschauung aber dem einen oder dem anderen Phänomen unterfällt, kann nur bei einer Beobachtung über längere Zeit beurteilt werden. Eine rechtserhebliche Entscheidung – sei sie rechtssetzender oder rechtsanwendender Natur – kann jedoch immer nur auf eine Momentaufnahme ihrer gesellschaftlichen Umwelt zurückgreifen. Aus diesem Grund rechtfertigt sich eine gemeinsame Darstellung.
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Die Gegenüberstellung zumindest des Kulturbegriffs mit dem Recht mag insoweit verwundern, als das Recht häufig als Teil der Kultur einer Gruppe[93] bzw. als „Kulturerscheinung“[94] angesehen wird. Insoweit fungiert das Recht allerdings in erster Linie als Spiegel der gesellschaftlichen Anschauungen; denn kulturelle Vorstellungen wirken als Motivation für die Rechtssetzung. Dies gilt gleichermaßen für die grundlegenden Fragen der Staatsgestaltung[95] (weshalb die Verfassungslehre teilweise als Kulturwissenschaft bezeichnet wird)[96] wie auch im Bereich des einfachen Rechts: So ist beispielsweise das Eherecht in Europa stark vom Christentum geprägt.[97] Aber auch auf nur vorübergehende Veränderungen im Werte- und Rechtsbewusstsein der Bevölkerung hat die rechtssetzende Instanz – in der repräsentativen Demokratie nicht zuletzt aus einem Selbsterhaltungsinteresse heraus – regelmäßig zu reagieren.[98]
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Aber auch im Bereich der Rechtsanwendung sind kulturelle und zeitgeistliche[99] Einflüsse (über diejenigen, die bereits durch die Einwirkungen kultureller Ideen auf das Rechtssetzungsverfahren in die Abfassung der Norm eingegangen sind, hinaus) denkbar, sofern das Recht entsprechende Möglichkeiten vorhält.[100] Exemplarisch genannt sei an dieser Stelle das Mordmerkmal „aus niedrigen Beweggründen“.[101] Rechtfertigung erhält die Berücksichtigung weltanschaulicher Entwicklungen dabei insbesondere durch das Demokratieprinzip.[102]
ee) Moral
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Das Verhältnis von Recht und Moral gehört zu den umstrittensten rechtsphilosophischen Problemen und ist einer dogmatischen Untersuchung kaum zugänglich. Ausgehend von der rechtspositivistischen These einer Trennbarkeit von Recht und Moral stellt sich zunächst die Frage nach dem maßgeblichen