Gusy stellt in diesem Zusammenhang die These auf, dass dem Rechtsanwender die Bewertung einer aus außerrechtlichen Quellen geschöpften Erkenntnis entzogen ist, vielmehr lediglich rechtliche Anforderungen an die Art und Weise ihrer Gewinnung zulässig sind.[51] Dies scheint auf den ersten Blick verwunderlich, ist der Richter doch auch etwa nicht an die Ergebnisse eines Sachverständigengutachtens gebunden.[52] Allerdings ist es vorrangig die Aufgabe des Richters, Rechtsfragen zu beantworten. Jedoch wird ein außerrechtlicher Maßstab, auf den eine Rechtsnorm Bezug nimmt, damit nicht selbst in den Rang einer Rechtsnorm erhoben.[53] Zudem fehlt es dem Richter in Bezug auf vom Recht rezipierte außerrechtliche Sätze regelmäßig an Sachkunde. Freilich bestehen vereinzelte Ausnahmen: So können etwa bei den Landgerichten zivile Kammern für Handelssachen eingerichtet werden, die neben dem Vorsitzenden aus zwei stimmgleichberechtigten ehrenamtlichen Richtern bestehen (§ 105 GVG), die dem Handelsstand angehören (vgl. § 109 GVG). Auf den Aspekt der gerichtlichen Überprüfbarkeit wird an späterer Stelle noch einzugehen sein.[54]
cc) Einwand der Kontrafaktizität des Rechts
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Es verbleibt der Einwand, die Rezeption bestehender Lebenswirklichkeiten würde, da das Recht seiner Natur nach auf die Veränderung der Außenwelt abzielt, eben diesem Zweck zuwiderlaufen.[55] Diese Kritik wird weiterhin gestützt durch die Luhmannsche Systemtheorie, welche die Funktion des Rechts als „Stabilisierung normativer Erwartungen“ und Rechtsnormen als „kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartung[en]“ begreift.[56]
Wenn auch diesem Einwand dem Grunde nach zuzustimmen ist,[57] so verkennt er doch, dass Recht nicht zwangsläufig zur Änderung der bestehenden Verhältnisse führen muss, sondern auch zu deren Stabilisierung dienen kann. Alles andere würde bedeuten, dass ein präventives Verbot bzw. eine dazugehörige Sanktionsnorm nur geschaffen werden dürfte, sobald es zumindest einen „Verstoß“ gegen diese noch nicht geltende Vorschrift gegeben hat.
Auch im Übrigen kann eine „Wissenschaft vom Sollen“ nicht vollständig vom „Sein“ gelöst sein;[58] die beiden Kategorien stehen nicht „von vornherein beziehungslos nebeneinander“.[59] Dies findet seinen Hintergrund nicht zuletzt in der Tatsache, dass ein stabiles Rechtssystem – jedenfalls im Großen und Ganzen – auf die Akzeptanz seiner Rechtsunterworfenen angewiesen ist,[60] was nur bei einer Anlehnung an die bestehenden Verhältnisse möglich ist.
dd) Zwischenergebnis
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Eine Akzessorietät des Rechts zu einzelnen Bereichen der Lebenswirklichkeit ist weder bei Zugrundelegung eines systemtheoretischen Ansatzes noch aus verfassungsrechtlichen Gründen oder gar aufgrund der Natur des Rechts selbst dem Grunde nach ausgeschlossen. Für die Phase der Rechtssetzung ergeben sich insoweit überhaupt keine Einschränkungen. Hinsichtlich der Rechtsanwendung ist aber erforderlich, dass eine rechtsimmanente Öffnung für außerrechtliche Aspekte besteht.
b) Akzessorische Wirklichkeitsbereiche
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Im Folgenden werden die wichtigsten Bereiche der Wirklichkeit, zu denen Akzessorietätsbeziehungen bestehen könnten, im Einzelnen untersucht.
aa) Politik
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Dass „enge[] und offensichtliche[] Zusammenhänge zwischen Politik und Recht“ bestehen, wird nicht einmal seitens der Systemtheoretiker ernsthaft bestritten.[61] „Rechtsnormen sind ein Stück normativ verfestigter, dauerhaft gemachter“[62] Politik; Recht ist „geronnene“[63] Politik. „Ideologiefreies Recht kann es nicht geben.“[64]
Wie eng die Verbindung zwischen den beiden Disziplinen im Einzelfall ist, muss aus der Perspektive des Rechts nach seiner Phase bestimmt werden:[65]
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In der Phase der Rechtssetzung ist der Konnex am stärksten. Ob, in welcher Form und mit welchem Inhalt eine bestimmte Regel zu Recht erwächst, ist ausschließlich dem Willen der rechtssetzenden Instanz unterworfen, die mit der Neuregelung, Änderung oder Aufhebung einen bestimmten politischen Zweck verfolgt. Das Recht ist eines der wichtigsten politischen Handlungsinstrumente.
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Geht es jedoch um Rechtsanwendung, ist das Maß des politischen Einflusses nicht mehr so eindeutig zu bestimmen, sondern gehört vielmehr zu den umstrittenen grundlegenden Fragen der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre, die sich in der Gegenüberstellung der Begriffe „objektive Auslegung“ und „subjektive Auslegung“ manifestiert.[66] Während die Vertreter der subjektiven Auslegung fordern, dass die niedergelegten Absichten des historischen Gesetzgebers Einfluss auf das Auslegungsergebnis nehmen müssten,[67] wird unter Zugrundelegung einer objektiven Auslegungstechnik überwiegend davon ausgegangen, dass die Teleologie einer Rechtsvorschrift lediglich aus ihr selbst heraus zu ermitteln sei und sie auf diese Weise auch losgelöst vom historischen Kontext ihrer Schaffung, sondern angepasst an die gegenwärtigen Verhältnisse angewandt werden könne.[68] Nur dem Gesetz allein komme die Kraft der legislatorischen Bindung zu.[69] Das Gesetz könne – so der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts – „klüger sein als die Väter des Gesetzes.“[70] Und der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs führt dazu aus: „Kein Gesetz verträgt eine starre Begrenzung seiner Anwendbarkeit auf solche Fälle, die der vom Gesetzgeber ins Auge gefaßten Ausgangslage entsprechen; denn es ist nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepaßt weitergelten will, solange dies nicht die Form sprengt, in die er gegossen ist […].“[71]
Dieser Streit kann nicht mit einfachen Argumenten und möglicherweise gar nicht entschieden werden;[72] dieser Versuch soll im Folgenden auch gar nicht unternommen werden. Hingewiesen sei an dieser Stelle nur auf Folgendes: Auch unter Zugrundelegung einer im oben genannten Sinne objektiven Auslegungsmethodik kann die Anpassung vorhandener Rechtsnormen nicht vollständig synchron mit der Änderung der politischen Verhältnisse ablaufen. Denn dann wäre bereits – im demokratischen Rechtsstaat – die Wahl eines Gesetzgebers neuer politischer Ausrichtung selbst ein Rechtssetzungsvorgang. Gusy führt insoweit treffend aus, dass „die rechtssetzende Instanz selbst […] die Norm zwar aufheben oder ändern [darf]. So lange sie dies aber nicht getan hat, muss sie von deren Geltung ausgehen und darf sie nicht einfach ignorieren. Insoweit bewirkt Recht für die rechtssetzenden Instanzen auch eine gewisse Selbstbindung.“[73] Vor diesem Hintergrund kann es auf Rechtsanwendungsebene jedenfalls keine strenge Politikakzessorietät dergestalt geben, dass Gesetze automatisch im Licht der aktuellen politischen Verhältnisse ausgelegt werden können. Ausgehend von den – niedergelegten[74] – Absichten des historischen Rechtssetzers ist zu fragen, ob sich die im Rechtssetzungsverfahren zugrunde gelegten Prämissen verändert haben. Nur wenn sich die Umstände objektiv anders darstellen als im Zeitpunkt der Rechtssetzung, ist eine Modifikation im Rahmen der allgemeinen Regeln der Methodenlehre zulässig. Ist lediglich die Bewertung gleich gebliebener Umstände eine andere, muss der „neue“ Rechtssetzer selbst tätig werden, um die Rechtslage zu verändern.
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Konsequent zum oben Gesagten muss die Frage nach einer Öffnungsklausel sich eigentlich auch im Verhältnis von Recht und Politik stellen. Dies gilt umso mehr, als solche Klauseln anderen Rechtsordnungen nicht fremd sind bzw. waren: So sind etwa Verordnungen der Europäischen Union „in allen ihren Teilen verbindlich“ (Art. 288 UAbs. 2 Satz 2 AEUV), was die Erwägungsgründe der Verordnung mit einschließt. Insofern kann man von einer Öffnungsklausel im oben genannten Sinne für die Einbeziehung des subjektiven Willens des Verordnungsgebers in das Recht sprechen. Ähnliches fand sich im Allgemeinen Preußischen