Aufbauend[32] auf den selbstreferentiellen Charakter des Rechtssystems ergibt sich dessen Autopoiese:[33] Aufgrund seiner Selbstreferenz ist das System in der Lage, seine eigenen Komponenten selbst zu reproduzieren.[34]
(3) Relativierungen der Autonomie des Rechtssystems
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Eine solche Betrachtungsweise würde den Akzessorietätsgedanken auf den ersten Blick – jedenfalls in Bezug auf die Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit – im Keim ersticken. Allerdings werden die soeben geschilderten Ausgangsgedanken des systemtheoretischen Ansatzes auch durch die Systemtheoretiker selbst relativiert. Die diesbezüglichen Modelle der beiden wichtigsten Vertreter der Systemtheorie in Deutschland seien im Folgenden vorgestellt:
(a) Operative und strukturelle Koppelungen (Luhmann)
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Nach Luhmann sind – jedenfalls aus dem System des Rechts heraus – sowohl strukturelle wie auch operative Koppelungen zwischen dem (Rechts-)System und dessen Umwelt möglich:[35] Während operative Koppelungen nur in Bezug auf Einzelereignisse möglich sind (Beispiel: eine Zahlung stellt einerseits eine Kommunikation im Wirtschaftssystem dar und zugleich eine Rechtssystem-Operation, weil durch sie eine Verbindlichkeit beglichen wird, woraufhin das Rechtsgefüge sich ändert),[36] wird unter strukturellen Koppelungen das Vertrauen eines Systems in den Bestand eines Umweltcharakteristikums (z.B. die Existenz von Geld) verstanden.[37] Mehrere Systeme beruhen auf gleicher Basis, die sie in ihrer jeweiligen Codierung eigenständig umsetzen. Trotzdem fungieren Umweltereignisse auch im Bereich struktureller Koppelungen nicht als „Input“ in ein System, sondern führen lediglich zur Irritation des Systems,[38] das diese als ein Problem im Umgang mit den eigenen Fragestellungen mittels seiner eigenen Strukturen wahrnimmt und somit in der Lage ist, nach einer – systeminternen – Reaktionsmöglichkeit zu suchen,[39] ohne die Komplexität der Umweltbedingen nachvollziehen zu müssen.[40]
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Bei der näheren Betrachtung dieses Konzepts drängt sich der Gedanke der Differenzierung nach Rechtssetzungs- und Rechtsanwendungsphase auf: Während sich operative Koppelungen vor allem im Bereich der Rechtsanwendung (nicht zwangsläufig im Sinne einer gerichtlichen oder Verwaltungsentscheidung, sondern im Sinne einer – auch abstrakten – einzelfallbezogenen Subsumtion) abspielen – es geht um Einzelereignisse, die in mehreren Systemen Operationen auslösen –, spielen die strukturellen Koppelungen vor allem im Bereich der Rechtssetzung eine Rolle, wo auf gesellschaftliche (im Sinne der Systemtheorie: Umwelt-)Veränderungen durch eine Anpassung der Rechtslage reagiert werden kann (z.B. durch die Regelung des Umgangs mit einer neuentdeckten Technologie).
Im Einzelfall mittels operativer Koppelung reaktionsfähig zu sein, setzt daher das Vorhandensein einer strukturellen Koppelung voraus. Die im Einzelereignis gekoppelte Operation stellt lediglich eine Konkretisierung bzw. Umsetzung der strukturellen Koppelung der Systeme dar.
(b) Interferenzmodell (Teubner)
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Nach Teubner existiert ein Zusammenhang zwischen den Operationen verschiedener Systeme aufgrund von Interferenzen.[41] Gemeint ist damit Folgendes: Das Rechtssystem stellt ein Subsystem des gesamtgesellschaftlichen Systems dar. Jeder Kommunikationsvorgang im Rechtssystem stellt gleichzeitig einen allgemeingesellschaftlichen Akt dar (auch wenn der Code der Kommunikation sich nach dem jeweiligen System richtet).[42] Die Kommunikation auf der Ebene des allgemeingesellschaftlichen Systems interferiert aber wiederum mit den anderen Subsystemen der Gesellschaft, sodass dort ebenfalls – systeminterne – Operationen erfolgen können.
Ein Zugang außerrechtlicher Vorgänge in das Rechtssystem hinein erfolgt also über den „Umweg“ des Gesamtsystems Gesellschaft. Vorkommnisse in einem Subsystem der Gesellschaft haben zwangsläufig Auswirkungen auf das gesamtgesellschaftliche System, was wiederum auf die anderen Subsysteme – und folglich auch auf das Rechtssystem – durchschlägt bzw. zumindest durchschlagen kann.
(4) Konsequenzen für die These einer Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit
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Nach alledem steht auch ein systemtheoretischer Ansatz einer Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit nicht im Wege. „Soziale, ökonomische, politische Determinierung des Rechts wird – allen gegenteiligen Unterstellungen zum Trotz – in einem selbstreproduzierenden Rechtssystem nicht ausgeschlossen, sondern [ist] vorausgesetzt.“[43] „[W]eder die Realität noch die kausale Relevanz der Umwelt werden geleugnet […].“[44] „Die Trennung von Sein und Sollen rechtfertigt keinen selbstgenügsamen Methodenkanon.“[45]
Die dargestellten Modelle zur Relativierung der Autonomie der einzelnen gesellschaftlichen (Sub-)Systeme eröffnen verschiedene Möglichkeiten des Zugangs gesellschaftlicher Vorgänge in das Rechtssystem. Zudem bietet im Übrigen das systemtheoretische Modell bereits in seinem Ausgangspunkt die Möglichkeit zur Herstellung von Akzessorietätsbeziehungen: Durch die kognitive Offenheit der sozialen Systeme ist eine Beobachtung der Umwelt durchaus möglich. Zwar kann diese nicht direkt auf das Recht einwirken; allerdings kann das Recht, wenn es sich selbstreferentiell wiederherstellt, auf seine Beobachtungen der Umwelt Bezug nehmen. Ein Kommunikationsakt des Rechtssystems selbst kann für dieses nämlich trotzdem bindende Wirkung entfalten. Zwar kann kein außerrechtlicher Vorgang eine Entscheidung über Recht oder Unrecht treffen, aber das Rechtsystem kann sich bei dieser Entscheidung auf seine Umweltbeobachtungen stützen. Erforderlich ist hierfür lediglich, dass das Recht selbst systeminterne Instrumente vorhält, um eine entsprechende Operation zu ermöglichen.[46]
bb) Verfassungsrechtliche Einwände gegen eine Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit
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Ein zweiter Einwand ergibt sich seitens der Verfassung: Gemäß Art. 20 Abs. 3 GG sind „die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung […] an Gesetz und Recht gebunden“; die Richter sind „dem Gesetze unterworfen“ (Art. 97 Abs. 1 GG). Diese Formulierungen legen den Schluss nahe, dass jedenfalls in der Phase der Rechtsanwendung eine Heranziehung außerrechtlicher Umstände zur Rechtsfindung unzulässig sein könnte.
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Bei genauerem Hinsehen offenbart sich jedoch, dass sich aus den genannten Vorschriften kein Gebot der alleinigen Ableitung des Rechtsanwendungsergebnisses aus dem Recht ergibt, sondern lediglich ein Vorrang der Heranziehung von Rechtsnormen, denn diese allein werden für verbindlich erklärt. Das bedeutet für die Einbeziehung lebenswirklicher Fakten, dass sie zum einen zulässig ist, wenn Rechtsnormen auf sie verweisen.[47] Zum anderen ist eine Herleitung aus außerrechtlichen Gegebenheiten möglich, wenn insoweit keine rechtliche Regelung existiert, weil dann der Vorrang der Begründung aus rechtlichen Elementen nicht unterlaufen wird.[48] Die Rezeption außerrechtlicher Umstände kann nur aus dem Recht selbst heraus erfolgen.[49]
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Die These von der Akzessorietät des Rechts wird somit durch die Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG nicht widerlegt, sondern lediglich eingeschränkt: Soweit ein bestimmter Lebensbereich rechtlich überhaupt geregelt ist, bedarf es zur Einbeziehung außerrechtlicher Umstände einer entsprechendenden (hier sog.) „Öffnungsklausel“[50]. Dieses Ergebnis entspricht im Wesentlichen der obigen Darstellung zur Systemtheorie, wonach (nur) durch eine rechtssystemimmanente