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Die Kammern wurden – im Rückgriff auf die Ständeversammlungen – als „Landstände“, „Stände“ oder „Landtage“ bezeichnet. Sie wurden durch den Monarchen einberufen und aufgelöst. Der Kammerpräsident und seine Stellvertreter wurden in der Regel durch den Monarchen ernannt. Die Versammlung hatte allenfalls das Recht zur Präsentation eines Kandidaten. Das Geschäftsordnungsrecht regelten Verfassungsvorschriften oder Edikte, die vom Monarchen gesetzt oder jedenfalls beeinflusst wurden. Ansätze zur Geschäftsordnungsautonomie, freilich mit fortbestehendem Einfluss des Monarchen, gab es allein in Baden und Württemberg. Die Kompetenzen der Kammern waren beschränkt.[12] Vor 1848 besaßen sie das Gesetzesinitiativrecht in der Regel nicht (mit Ausnahmen nur in sehr kleinen Staaten). Sie hatten allenfalls die Möglichkeit einer „Gesetzespetition“, also eines Gesetzgebungswunsches. Die Gesetzgebung war regelmäßig dem Monarchen und den Kammern gemeinsam zugewiesen. Der Monarch besaß dadurch ein absolutes Vetorecht. Er galt als der eigentliche Gesetzgeber.
Beispiel:
Preußische Gesetze wurden etwa mit den Worten eingeleitet: „Wir, Wilhelm (…), König von… [geben folgendes Gesetz]…“).
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Eine Rechtsgrundlage in Gesetzesform war in der Regel allein für Eingriffe in Freiheit und Eigentum nötig, d.h. der Inhalt der Regelung bestimmte darüber, ob ein Gesetz und damit, ob die Zustimmung der Kammern notwendig waren. Nur vereinzelt, z.B. in Baden und Hessen-Darmstadt, wurde den Abgeordneten Immunität garantiert. Sie sollte die Kammern vor unsachlichem Einfluss der monarchischen Exekutive auf die Zusammensetzung und die Arbeitsfähigkeit schützen. Die Kammern hatten teilweise zunächst nur ein eingeschränktes Budgetrecht und durften den Haushalt in manchen Staaten lediglich mitberaten. Das Interpellationsrecht, also das Recht, Anfragen an die Regierung zu stellen, stand den meisten Kammern zu. Vertreter der Landesregierung waren nicht in allen Staaten zu den Beratungen der Kammern zugelassen; zum Teil wurde zwischen Parlament und Regierung nur schriftlich korrespondiert.[13] In den Parlamenten entstanden die Vorläufer von Parlamentsverwaltungen („Bureaus“). Ihre Mitarbeiter wurden von der monarchischen Exekutive gestellt.
Einige Zweite Kammern – namentlich die in Baden, Bayern, Hessen-Darmstadt, Hessen-Kassel, Hannover, Sachsen und Württemberg – nahmen eine Vorreiterrolle in der Entwicklung des Parlamentsrechts im Vormärz (1830-1848) ein.[14]
3. Revolution 1848 und das Paulskirchenparlament
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Als Folge der Revolution im März 1848 wurde die Frankfurter Nationalversammlung in einer allgemeinen, wenn auch auf Männer beschränkten, Wahl gewählt. Sie trat in der Paulskirche zusammen. Ihre Aufgabe und Herausforderung lag darin, eine freiheitliche demokratische Verfassung zu schaffen – für einen noch nicht bestehenden einheitlichen Nationalstaat, bei mit der Zeit stärker werdendem Widerstand der Fürsten. Die Versammlung verabschiedete nach immerhin 230 Sitzungen zwar einen Entwurf für eine Reichsverfassung (28. März 1849, „Paulskirchenverfassung“). Die Verfassung trat aber insgesamt nicht in Kraft. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. weigerte sich, die ihm angetragene Kaiserkrone anzunehmen. Die Paulskirchenversammlung wurde aufgelöst. Die Revolution scheiterte. Sie war jedoch für die zukünftige Entwicklung einflussreich. Die Paulskirchenverfassung stellte eine Art „Ideenmotor“ dar: Die nicht in Kraft getretene Reichsverfassung prägte die Preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 und die nachfolgende Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867, aus der die Reichsverfassung vom 16. April 1871 hervorging. Spuren der Paulskirchenverfassung finden sich noch in der Weimarer Reichsverfassung (vom 11. August 1919) und im Grundgesetz (vom 23. Mai 1949). Das von der Paulskirche erlassene sog. Frankfurter Reichswahlgesetz vom 12. April 1849[15] prägte das Wahlrecht der Einzelstaaten, des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches. Die Arbeit der Paulskirchenversammlung und die parallelen Reformvorstöße in den Einzelstaaten waren damit eine entscheidende Wegmarke für die Entwicklung des Parlamentsrechts.[16] Sie bedeuteten einen parlamentsrechtlichen Quantensprung[17]. Die Geschäftsordnung der Paulskirchenversammlung, die Robert von Mohl ausgearbeitet hatte,[18] beeinflusste die bereits erwähnte Preußische Verfassung und die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses vom 6. Juni 1862. Letztere prägte die Regularien der nachfolgenden Parlamente. Sie wurde zur provisorischen Geschäftsordnung des Reichstages des Norddeutschen Bundes (1867-71). Dessen Geschäftsordnung vom 12. Juni 1868 enthielt nur einige Änderungen (wie die Gesetzesberatung in drei „Lesungen“). Sie wurde ab 1871 zur Geschäftsordnung des Deutschen Reichstags. Bis 1918 änderte das Parlament sie nur in sehr geringem Maße.[19] Manche ihrer Regelungen sind noch in der GO-BT erkennbar – was erst heute angesichts der Tatsache als Problem thematisiert wird, dass es sich seinerzeit nicht um parlamentarische Regierungssysteme handelte.[20]
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Schließlich war die Frankfurter Nationalversammlung prägend für die Herausbildung parlamentarischer Organisation, parlamentarischer Verfahren und parlamentarischer Verhaltensweisen. Zwar kannte die Nationalversammlung noch keine Parteien. Politische Parteien bildeten sich erst ab den 1860er Jahren. In der Versammlung entstanden aber Fraktionen. Fraktionsähnliche Gruppierungen hatte es schon in den süd- und mitteldeutschen Landtagen in den Zeiten des Vormärzes gegeben.[21] Die Abgeordneten waren als Persönlichkeiten in das Parlament gewählt worden. Es zeigte sich rasch, dass es politischer Zusammenschlüsse bedurfte, damit die Nationalversammlung geordnet arbeiten konnte. Erste Grundlage der Gruppierungen waren Übereinstimmungen in den grundsätzlichen Fragen der zu schaffenden Reichsverfassung sowie in Fragen der Weltanschauung und Konfession.[22] Bald stimmten sich die Gruppierungen auch in nachrangigeren Fragen ab. Die Vereinigungen wurden „Fraktion“, „Clubb“ oder „Partey“ genannt. Ihre Namen erhielten sie nach den Frankfurter Kaffeehäusern, Hotels und Lokalen, in denen ihre Versammlungen stattfanden („Deutscher Hof“, „Café Milani“, „Donnersberg“, „Casino“ etc.). Die Abgeordneten der Paulskirche sammelten erste Erfahrungen mit einer abgestimmten Vorgehensweise der jeweiligen Gruppierungen sowie der Kompromiss- und der Mehrheitsfindung.
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Auch im Preußischen Landtag und anderen einzelstaatlichen Parlamenten sowie im Reichstag der Kaiserzeit existierten feste Fraktionen, ebenfalls ohne in der jeweiligen Geschäftsordnung erwähnt zu werden. Für die Geschichte der Fraktionen ist es typisch, dass ihre tatsächliche Rolle stets stärker war, als man es nach dem geschriebenen Recht hätte vermuten können.[23]
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Bis zur Jahrhundertwende entwickelte sich das deutsche Parlamentsrecht in Richtung der Maßstäbe, welche die Paulskirchenversammlung gesetzt hatte. Ab 1867 bestanden im Norddeutschen Bund, ab 1871 auf Reichsebene und spätestens um 1900 in den großen sowie den meisten mittleren und kleinen Bundesstaaten inhaltlich im Wesentlichen dieselben parlamentsrechtlichen Regelungen wie in der Paulskirchenversammlung. Ausnahmen bildeten Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Anhalt und Sachsen-Weimar-Eisenach. Die aus der Paulskirchenverfassung in die Verfassung oder in die Geschäftsordnung übernommenen Regelungen der