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Das politische Gewicht des Reichstages im Verhältnis zur Reichsleitung war zunächst eher gering. Zwar änderte der Reichstag mehrere Gesetzentwürfe ab. Stärkere Einflüsse des Parlaments bzw. der Parteien auf die Regierungsarbeit waren aber erst seit 1890, wenngleich auch nicht ununterbrochen, spürbar.[37] So stützte sich Reichskanzler Bernhard von Bülow zeitweise auf bestimmte Fraktionen („Bülow-Block“). Er trat 1909 zurück, als seine parlamentarischen Unterstützer ihn verließen. Sein Nachfolger Theobald von Bethmann Hollweg suchte sich wechselnde Reichstagsmehrheiten. Er musste ab der Reichstagswahl 1912 mit der deutlich erstarkten SPD rechnen. Die Sozialdemokraten besaßen 110, das katholische Zentrum 91 und die freisinnige Volkspartei 42 der insges. 397 Mandate. Der Reichstag verstärkte 1912 seine Kontrollbemühungen gegenüber der Reichsleitung durch die Einführung erweiterter Fragerechte und eines (rechtlich folgenlosen) Misstrauensvotums. Zu Beginn des Krieges unterstützte der Reichstag mehrheitlich noch den Kurs der Reichsleitung, v.a. bei der Bewilligung der Kriegskredite („Burgfrieden“). In der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs, insb. seit Juli 1917, verstärkte sich der Einfluss des Parlaments erneut. Die Fraktionen der SPD, des katholischen Zentrums und der liberalen Fortschrittlichen Volkspartei (FVP), die im Reichstag über die Mehrheit der Sitze verfügten, bildeten den Interfraktionellen Ausschuss als informelles Abspracheforum. Sie nahmen Einfluss auf die Regierungsbildung im Oktober 1917 (Reichskanzler Georg von Hertling) und im Oktober 1918 (Reichskanzler Prinz Max von Baden). Einige Staatssekretäre des letzten Jahres des Kaiserreichs entstammten den Reichstagsfraktionen. Sie mussten aber wegen Art. 21 Abs. 2 RV mit dem Amtsantritt ihr Mandat aufgeben. Friedrich von Payer (FVP) wurde im November 1917 Vizekanzler; Max von Baden nahm Philipp Scheidemann und Gustav Bauer (beide SPD) im Oktober 1918 als Staatssekretäre ohne Geschäftsbereich in sein Kabinett auf.
c) Oktoberreform 1918
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Kurz vor dem Ende des Kaiserreichs wurde das parlamentarische Regierungssystem eingeführt. Die führenden Parteien des Reichstages hatten das schon länger verlangt. Doch erst auf Initiative der 3. Obersten Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff kam es zu der Reform. Die Generäle hofften, die Parlamentarisierung würde günstigere Friedensbedingungen ermöglichen. Zugleich sollte die politische Verantwortung für die nun sichere Kriegsniederlage auf die Parteien und den Reichstag abgewälzt werden. Zwei Reichsgesetze vom 28. Oktober 1918 änderten die Reichsverfassung.
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Das erste Gesetz[38] modifizierte unter anderem die Stellung und die politische Abhängigkeit des Reichskanzlers. Der Reichskanzler war nun vom Vertrauen des Reichstages abhängig (Art. 15 Abs. 3 RV). Der Kaiser war verpflichtet, den Reichskanzler zu entlassen, wenn der Reichstag dem Kanzler das Misstrauen ausgesprochen hatte. Somit wurde das Ernennungsrecht des Kaisers faktisch beschränkt, denn der Monarch hätte nur noch mit dem Vertrauen der Reichstagsmehrheit versehene Kanzler ernennen können. Andernfalls hätte er riskiert, dass er den Kanzler wegen eines Misstrauensvotums gleich wieder hätte entlassen müssen. Der Schwerpunkt der Regierungskontrolle wurde somit vom Kaiser auf den Reichstag verlagert.[39] Die Gegenzeichnung durch den Kanzler erstreckte sich nunmehr auf „alle Handlungen von politischer Bedeutung“ (Art. 15 Abs. 4 RV) – und damit auch auf die bisher vom Kaiser allein verantworteten Akte der militärischen Kommandogewalt[40] – sowie durch Änderung der Art. 53 Abs. 1, 64 Abs. 2 und 66 RV auch auf alle Ernennungen durch den Kaiser. Damit war das gesamte Kriegswesen der Verantwortung des Reichskanzlers und somit dem Einfluss des Reichstages unterstellt.[41] Für eine Kriegserklärung sowie die Zustimmung zu einem Friedensvertrag war nach einer Änderung des Art. 11 Abs. 2, 3 RV auch der Reichstag zuständig. Der Reichstag verdrängte, da er den Kanzlerrücktritt erzwingen konnte, nun auch formell den Bundesrat vom ersten Platz in der Hierarchie der Reichsorgane.[42]
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Das zweite verfassungsändernde Gesetz vom gleichen Tag[43] hob die Unvereinbarkeit zwischen Abgeordnetenmandat und Staatsamt (Art. 21 Abs. 2 RV) auf. Abgeordnete konnten somit als Staatssekretär in die Reichsleitung eintreten, ohne ihr Mandat zu verlieren. Zugleich wurde einfachgesetzlich geregelt, dass auch die Stellvertreter des Reichskanzlers im Reichstag jederzeit zu hören seien. Sie mussten also nicht mehr Mitglieder des Bundesrates sein, um das Rederecht des Art. 9 RV in Anspruch nehmen zu können.
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Die Oktoberreform wirkte sich politisch nicht mehr aus: Sie vermochte die Monarchie in Deutschland nicht zu retten. Auch trug sie nicht dazu bei, die harten Bedingungen zu mildern, unter denen der Waffenstillstand und der Friedensvertrag von Versailles geschlossen wurden.
§ 2 Geschichte der Parlamente und des Parlamentsrechts › III. Parlamentarische Demokratie
a) Novemberrevolution
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Im November 1918 begann die Revolution in Norddeutschland. Sie erfasste innerhalb weniger Tage das ganze Reich. Die Monarchien im Reich und in den Ländern brach zusammen. Max von Baden übergab das Amt des Reichskanzlers am 9. November 1918 an Friedrich Ebert (SPD). Philipp Scheidemann (SPD) rief am Nachmittag desselben Tages von einem Balkon des Reichstages die Republik aus. Der von SPD und USPD gebildete sechsköpfige „Rat der Volksbeauftragten“ übernahm am 10. November 1918 provisorisch die Regierungsgewalt. Er ordnete in seinem „Aufruf an das deutsche Volk“ vom 12. November 1918[44] an, dass Wahlen zu allen gesetzgebenden Körperschaften fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten und allgemeinen Wahlrecht für alle mindestens 20 Jahre alten Männer und Frauen stattzufinden hätten. Diese Wahlrechtsgrundsätze wurden in §§ 1, 2 der Verordnung über die Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung (Reichswahlgesetz) vom 30. November 1918[45] wiederholt. Trotz vieler Widerstände und Schwierigkeiten setzte der Rat der Volksbeauftragten, dem ab Ende Dezember 1918 nur noch SPD-Mitglieder angehörten, durch, dass so bald wie möglich eine verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung gewählt wurde. Auf diese Weise wurde Deutschland zur parlamentarischen Republik. Zur Einführung eines antiparlamentarischen Rätesystems nach sowjetischem Vorbild, wie es der kommunistische „Spartakusbund“ (unter Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sowie die aus diesem hervorgehende KPD) forderten, kam es nicht.
b) Nationalversammlung und Weimarer Reichsverfassung
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Die am 19. Januar 1919 gewählte Deutsche Nationalversammlung trat am 6. Februar 1919 in Weimar zusammen. Ihr gehörten 37 Frauen an. SPD, Zentrum und DDP waren die Wahlsieger. Sie hatten 331 von 423 Sitzen erreicht und waren von Beginn an die staatstragenden Parteien der Weimarer Republik (sog. Weimarer Koalition).
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Die Nationalversammlung war nicht nur eine verfassunggebende Versammlung, sondern eine mit allen Vollmachten ausgestattete Volksvertretung. Sie war das erste vollends demokratische, da auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhende, deutsche Parlament. Die Nationalversammlung erließ Gesetze, kontrollierte die Regierung und entschied über die Annahme des Versailler Vertrages. Sie verabschiedete