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Der Reichstag und die demokratischen Parteien wurden, durch drei Neuwahlen in drei Jahren (davon zwei im Jahr 1932) und die Notverordnungspraxis, als politische Entscheidungsträger bis zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler (30. Januar 1933) im Wesentlichen ausgeschaltet. Reichstagssitzungen fanden kaum mehr statt. Im Jahr 1932 trat der Reichstag nur dreizehnmal zusammen. Auch die Ausschüsse und die Fraktionen tagten nur noch selten. Die innenpolitische Machtbalance verschob sich von der Legislative zur Exekutive. Ein Verfassungswandel[67] von der parlamentarischen zur präsidialen Republik war zu beobachten.
e) Selbstentmachtung durch das Ermächtigungsgesetz[68]
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Am 27. Februar 1933 brannte der Reichstag. Der Plenarsaal wurde vollständig zerstört. Ein Fanal für die Zukunft der Republik. Wer auch immer den Brand gelegt oder dazu angestiftet hatte: die Regierung Hitler nutzte ihn umgehend aus. Die einen Tag nach dem Brand, am 28. Februar 1933, erlassene „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ (sog. Reichstagsbrandverordnung) setzte „bis auf Weiteres“ die meisten Grundrechte außer Kraft. Sie galt bis zum Ende des NS-Regimes im Mai 1945. Bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933 erreichte die NSDAP nur gemeinsam mit der „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ (unter anderem DNVP, Stahlhelm und parteilose Rechtskonservative) die absolute Mehrheit der Sitze, obwohl der Wahlkampf anderer Parteien zum Teil massiv behindert worden war. Viele Zeitungen und Demonstrationen der linken Parteien waren mithilfe einer Notverordnung vom 4. Februar 1933 (sog. Schubladenverordnung) verboten worden. Die Organisation der KPD war zerschlagen worden. Viele ihrer Funktionäre befanden sich in „Schutzhaft“ oder auf der Flucht. Auch viele SPD-Funktionäre wurden verhaftet oder waren zur Emigration gezwungen. Hitler wollte Gesetze ohne Befassung des Reichstages (des Reichsrates und des Reichspräsidenten) erlassen können. Sein Ziel war die Verfassungsänderung durch ein Ermächtigungsgesetz, das die Gesetzgebung der Reichsregierung übertrug. Dafür war nach Art. 76 Abs. 1 S. 2 WRV eine doppelte Zweidrittelmehrheit erforderlich: Bei der Abstimmung mussten zwei Drittel der gesetzlichen Mitglieder anwesend sein und zwei Drittel der Anwesenden dem Gesetz zustimmen. Durch Versprechungen an das Zentrum gelang es den Nationalsozialisten, dieses zur Zustimmung zu bewegen. Auch die Abgeordneten der BVP und der anderen bürgerlichen (Splitter-)Parteien stimmten dem Gesetz zu. Das Gesetz erhielt 444 von 538 abgegebenen Stimmen. Damit wurde die erforderliche Zweidrittelmehrheit der Mitglieder und der Anwesenden erreicht. Der Reichstag entmachtete sich, den Reichsrat und auch den Reichspräsidenten durch das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom 24. März 1933[69], das Ermächtigungsgesetz, endgültig selbst. Nur die anwesenden 94 Abgeordneten der SPD stimmten mit „Nein“. Die 81 KPD-Mandate, deren Inhaber ohnehin schon verhaftet, untergetaucht oder ins Ausland geflohen waren, wurden „als nicht existent behandelt“[70]. Über die Verfassungsmäßigkeit des Ermächtigungsgesetzes ist viel gestritten worden. Auch wenn eine verfassungs- oder parlamentshistorische Darstellung nicht in der Lösung vergangener Rechtsfälle ihren Sinn findet: Richtiger Auffassung nach ist es nicht verfassungsgemäß zustandegekommen. Die einschüchternde SA- und SS-Präsenz im und vor dem Plenarsaal[71] war geeignet, die freie Willensentschließung und Abstimmung der Abgeordneten (Art. 21 WRV) einzuschränken. Die bedrohliche Atmosphäre im Sitzungssaal, die noch dadurch verstärkt wurde, dass der Raum mit Hakenkreuzflaggen dekoriert war und der Reichstagspräsident Göring sowie die übrigen NSDAP-Abgeordneten in Uniform erschienen, vermittelte den (nicht unbegründeten) Eindruck, Nein-Stimmen würden Leib und Leben gefährden. Die äußeren Umstände der Sitzung führten zur Unwirksamkeit der Abstimmung.[72]
2. Bundesrepublik Deutschland
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Nach dem Ende des NS-Regimes und des Zweiten Weltkrieges begann das parlamentarische Leben unter Aufsicht der Westalliierten zunächst wieder in den Ländern. 1948 beauftragten die drei Westalliierten die elf Ministerpräsidenten aus den drei westlichen Besatzungszonen, eine Verfassung für die Westzonen zu entwerfen. Die Landesparlamente wählten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates. Dieser erarbeitete den Entwurf des Grundgesetzes. Das Bonner Grundgesetz wurde von den Landtagen mehrheitlich angenommen, von Konrad Adenauer am 12. Mai verkündet und trat am 23. Mai 1949 in Kraft.
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Das Grundgesetz stellt den Bundestag in das Zentrum des parlamentarischen Regierungssystems. Der Bundestag wählt den Bundeskanzler (Art. 63, 67 GG). Er darf sich nicht selbst auflösen. Allein der Bundespräsident kann den Bundestag auflösen – und dies nur in den in Art. 63 Abs. 4 S. 3 und Art. 68 Abs. 1 GG genannten beiden Fällen. Dazu ist es bislang dreimal gekommen (1972, 1982 und 2005).
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Die Kabinettsmitglieder sind üblicherweise auch Parlamentsmitglieder (wenn nicht von Anfang an, dann sobald wie möglich). „Neutrale Fachminister“ spielen, anders als in der Weimarer Zeit oder in anderen europäischen Staaten, keine Rolle. Das ist eine logische Folge des parlamentarischen Regierungssystems. Die Bundeskanzler spielen eine starke Rolle (Kanzlerdemokratie). Die Bundesregierungen waren bislang sehr stabil, insb. wenn man sie mit ihren Weimarer Vorgängern oder den Regierungen mancher europäischer Staaten vergleicht. Ihre durchschnittliche Amtszeit wurde in der Weimarer Republik nicht einmal ansatzweise erreicht. Der Bundestag gehört im internationalen Vergleich zu den starken Parlamenten.[73] Er ist das „wahrscheinlich zweitstärkste Parlament der Welt“[74] nach dem US-Kongress. Der Bundestag hat entscheidenden Anteil an der positiven Entwicklung, welche die Bundesrepublik seit 1949 genommen hat.[75] Bundesrat und Bundesverfassungsgericht[76] bilden Gegengewichte zum Bundestag. Die Bundesregierung ist nicht Gegenspieler, sondern Produkt des Parlaments.
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Nicht nur die Verfassung und die gute wirtschaftliche Lage, sondern auch die Struktur des Parteiensystems war für die politische Entwicklung und Stabilität der Bundesrepublik zentral. Dazu seien einige Eckpunkte der Entwicklung der politischen Parteien unter dem Grundgesetz in Erinnerung gerufen.[77] Das Wahlrechtssystem wie auch das sich ausbildende parlamentarische Regierungssystem haben spätestens ab der dritten Bundestagswahl 1957 die Anzahl der Parteien zunächst deutlich verringert. Prägend für die Bundesrepublik war bei Rückgang der weltanschaulichen und ideologischen Ausrichtung