IV. Abgeordnetenrecht
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Das Abgeordnetenrecht bestimmt die Rechtsstellung (den Status) der Mitglieder eines Parlaments, also den Erwerb und Verlust eines Mandats sowie die Rechte und Pflichten aus dem Mandat. Es gehört zum Parlamentsrecht im weiteren Sinne. Auf Bundesebene sind Art. 38-48 GG, das Abgeordnetengesetz, §§ 45 ff. BWahlG, die Verhaltensregeln (als Anlage 1 zur GO-BT) sowie die zum Abgeordnetengesetz und zu den Verhaltensregeln ergangenen Ausführungsbestimmungen maßgeblich. In den 16 Bundesländern bestehen entsprechende Vorschriften im Landesverfassungsrecht, in den Landesabgeordneten- und Landeswahlgesetzen sowie in den Verhaltensregeln (die zum Teil im jeweiligen Landesabgeordnetengesetz und zum Teil in der jeweiligen Geschäftsordnung normiert sind). Art. 223 Abs. 2 AEUV legt fest, dass das Recht der Mitglieder des Europäischen Parlaments vom Parlament zu regeln ist. Die Details sind im EUAbgSt und den DB-EUAbgSt sowie in nationalen Gesetzen (z.B. dem EUAbgG) ausformuliert.
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V. Parlamentsrecht als Teil der Demokratieverfassung des Grundgesetzes
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Das Parlamentsrecht einschließlich des Abgeordnetenrechts kann nicht isoliert vom Prozess demokratischer Willensbildung insges. verstanden werden. Es ist daher zum Recht der politischen Parteien und zum Wahlrecht in Beziehung zu setzen. Parteienrecht, Wahlrecht und Parlamentsrecht bilden die Rechtsregime, die dem politischen Prozess einen rechtlichen Rahmen bieten. Normativ wird das im Grundgesetz durch die Art. 20 Abs. 2, 21 und 38 ff. umschrieben. Ergänzt und konkretisiert werden diese Bestimmungen u.a. durch das Parteiengesetz, das Bundeswahlgesetz, das Abgeordnetengesetz und die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, die zwar nicht formell, jedoch der Sache nach Verfassungsrecht außerhalb der Verfassungsurkunde bilden. In Anlehnung an andere Begriffsbildungen zu „Subverfassungen“ unter dem Grundgesetz – Finanzverfassung, Medienverfassung, Umweltverfassung, Wehrverfassung, Außenverfassung usw – kann man bei diesem Dreiklang von „Demokratieverfassung“ sprechen.
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Die politische Willensbildung vollzieht sich in der parlamentarischen Demokratie der Idee nach vom Volk zu den Staatsorganen, „von unten nach oben“, vom Legitimationssubjekt zum Parlament, aus der Gesellschaft heraus zu institutionalisierter Staatlichkeit.[13] Politische Willensbildung bedarf der Transformation in politische Entscheidungen.[14] „Demokratie erschöpft sich dann nicht in der Wahl, sondern gipfelt in ihr.“[15] Dieses Bild führte jedoch zu Missverständnissen, interpretierte man es als Einbahnstraße und die Wahl als Endpunkt. Politische Willensbildung ist in der parlamentarischen Demokratie stets ein Wechselwirkungsprozess, der mit einem Kreislaufmodell bildhaft besser umschrieben werden kann: Die Wahl ist darin nicht der Endpunkt, sondern eine zentrale, punktuelle Zwischenstation. Die parlamentarisch getroffenen Entscheidungen sind in den Bereich der öffentlichen Meinungsbildung rückzukoppeln.[16] Politikwissenschaftlich wird von Responsivität gesprochen.[17]
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Zwei verfassungsrechtliche Grunddeterminanten überwölben diese Prozesse in der gesellschaftlichen Willensbildung, im Wahlakt, in der staatsorganschaftlichen Willensbildung wie auch die phasenübergreifenden Vorgänge: die demokratische Gleichheit und die prinzipielle Freiheit und Offenheit des politischen Prozesses. Gleichheit und Freiheit legen damit die Verfahrensbedingungen politischer Willensbildung des demokratischen Verfassungsstaates in wechselseitiger Bezogenheit aufeinander fest.[18]
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Der Wahlvorgang koppelt gesellschaftliche und staatliche Willensbildung. Die politischen Parteien überwölben die Sphären von Volks- und Staatswillensbildung als Intermediäre und bilden insofern eine Art Klammer: „Von Herkunft zweifellos gesellschaftlich, haben sie als Ziel doch den Staat.“[19] In der parlamentarischen Willensbildung erscheinen die Parteien in der parlamentsorganisatorischen Form der Fraktionen transformiert. Neben anderen Mechanismen sorgen sie zwischen Wahlen für Responsivität, indem sie den Kontakt zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre in beide Richtungen hin aufrechterhalten. Die politischen Parteien lösen damit das Problem, dass die Verfassung einerseits Freiheit gewährleisten soll, andererseits demokratische Willensbildung organisieren muss.[20]
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Abgesichert werden diese vorrechtlichen Voraussetzungen durch die Kommunikationsgrundrechte, d.h. die Meinungs-, die Presse-, die Film- und Rundfunk-, die Informations- (alles Art. 5 Abs. 1 GG), die Versammlungs- (Art. 8 GG) und die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), die in der Rechtsprechung des BVerfG ihr besonderes Gewicht gerade aus dieser (Teil-)Funktion erhalten.[21]
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Wenn Volks- und Staatswillensbildungsprozess auch prinzipiell getrennt gedacht werden, ist die aus dem 19. Jh. bekannte hermetische bzw. kategoriale Trennung von Staat und Gesellschaft obsolet. Die Trennung ist freilich nicht zur Identität mutiert, sondern zu einer spezifischen Zuordnung.[22] Gerade die politischen Parteien verbinden diese Sphären.[23] Die prinzipiell vorgegebene Richtung der politischen Willensbildung sieht sich in der politischen Praxis Bedrohungen ausgesetzt. Die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung, zumindest in Wahlkampfzeiten, ist das augenfälligste Beispiel. Das BVerfG hat hier zu Recht restriktive Regeln entwickelt.[24]
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Der demokratischen Willensbildung ist vor dem skizzierten Hintergrund eine eigentümliche Mischung aus Trennung und Verschränkung von gesellschaftlicher und staatsorganschaftlicher Sphäre eigen.[25] Freiheit und Gleichheit hängen hier innerlich zusammen, weil erst die Staatsfreiheit der politischen Willensbildung die Chancengleichheit der Teilnahme am politischen Prozess garantiert.[26] Ausbildung und Vorformung des politischen Willens, vorrangig in Form der öffentlichen Meinung, erfolgen in der gesellschaftlichen Sphäre.[27] Nicht nur der Wahlakt als solcher, sondern der gesamte Wahlvorgang einschließlich seiner Vorbereitung sind ebenfalls frei. Im staatsorganschaftlichen Bereich setzt sich die freiheitliche Komponente politischer Willensbildung im Grundsatz des freien Mandats aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG fort. Was im Vorfeld staatsorganschaftlichen Handelns grundrechtlich abgesichert war, erscheint hier als Statusrecht der Abgeordneten. Die grundrechtliche Vereinigungsfreiheit einschließlich der freien Parteibildung setzt sich im Parlament als das Recht der Abgeordneten zur Fraktionsbildung fort. Die freiheitsrechtliche Dimension des Art. 21 Abs. 1 GG mit ihren Komponenten der Gründungs- wie der Betätigungsfreiheit der polischen Parteien verbindet und überwölbt den gesellschaftlichen und den staatsorganschaftlichen Bereich. Die politischen Parteien sind durch die Forderung nach demokratischer Binnenstruktur (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG) nahtlos in diesen politischen Prozess eingebunden, indem eine Grundhomogenität der Entscheidungsfindung in den beiden Sphären hergestellt ist.[28]
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Demokratische Gleichheit als politische Gleichheit abstrahiert von anderen, etwa sozialen Gleichheitspostulaten. Sie knüpft an das Menschsein als solches an, reduziert die Gleichheit jedoch auf die Zugehörigen, in der Regel die Staatsangehörigen.[29] Innerhalb dieses Zuschnitts ist die demokratische Gleichheit streng formal.[30] Ähnlich wie die freiheitsrechtliche Komponente kann auch die gleichheitsrechtliche Dimension der politischen Willensbildung von ihrem gesellschaftlichen Ausgangspunkt über den Wahlakt bis in die staatsorganschaftliche Willensbildung beschrieben werden. In der Vorformung politischer Willensbildung besteht prinzipiell gleicher Zugang zu Informationen sowie – normativ – die gleiche Betätigungsmöglichkeit. Im Wahlrecht schlägt sich die demokratische Gleichheit einerseits in der Allgemeinheit der Wahl, andererseits in dem Erfordernis