4. Norddeutscher Bund und Deutsches Kaiserreich
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Nach dem Deutschen Krieg zwischen Preußen und Österreich 1866 fanden sich alle 22 Staaten nördlich des Mains 1867 zur Gründung des Norddeutschen Bundes zusammen. Preußen war die Führungsmacht innerhalb des nunmehrigen Bundesstaates. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) traten auch die süddeutschen Staaten dem Bund bei. Er wurde zum Deutschen Reich. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 wurde mit nur leichten Änderungen zur Reichsverfassung vom 16. April 1871[24]. Beide Verfassungen sahen drei zentrale Staatsorgane vor: das „Präsidium des Bundes“ (Art. 11 RV, d.h. den Kaiser), den Bundesrat und den Reichstag.
a) Staatsorgane nach der Bismarck-Verfassung
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Der Kaiser war personenidentisch mit dem preußischen König (Art. 11 RV) und verdankte sein Amt der Erbfolge (Art. 53 PrVerf). Ein Verfassungsorgan namens „Reichsregierung“ gab es nicht. Vielmehr wurde die Regierungsgewalt – unbeschadet der Befugnisse des Bundesrates und des Reichstages – vom Kaiser und vom Reichskanzler ausgeübt. Der Kaiser ernannte den Reichskanzler (Art. 15 Abs. 1 RV). Der Reichstag oder der Bundesrat waren nicht zu beteiligen. Somit hing der Reichskanzler allein vom kaiserlichen Vertrauen ab. Der Reichskanzler war der einzige Reichsminister.[25] Ihm unterstanden die Staatssekretäre als Leiter der Reichsämter. Sie bildeten mit ihm die sog. Reichsleitung. Im Gegensatz zum parlamentarischen Regierungssystem blieb es also bei einer (spät)konstitutionellen[26] Monarchie. Der Reichskanzler war (mit zeitweiliger Ausnahmen) in Personalunion preußischer Ministerpräsident.
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Das Reich war ein Bundesstaat (Art. 1 RV). Der Bundesrat wurde von Bismarck als höchstes Reichsorgan konzipiert.[27] Er setzte sich zusammen aus Vertretern der 25 Mitgliedstaaten des Deutschen Reiches mit nach der Größe abgestufter Stimmenzahl (Art. 6 RV). Er war – ähnlich dem Bundestag des Deutschen Bundes – die Versammlung der Vertreter der „Bundesfürsten“. Der Bundesrat besaß eine Fülle an Kompetenzen. Er wirkte u.a. an der Reichsgesetzgebung (Art. 7) und beim Beschluss über eine Reichstagsauflösung mit (Art. 24 S. 2 RV). Den Vorsitz im Bundesrat führte der Reichskanzler (Art. 15 S. 1 RV). Der Bundesrat und die Reichsleitung waren vom Parlament organisatorisch und personell streng getrennt: Die Mitgliedschaft im Bundesrat war mit der Mitgliedschaft im Reichstag unvereinbar (Art. 9 S. 2 RV). Aber die Bundesratsmitglieder hatten das Recht, im Reichstag zu erscheinen und jederzeit gehört zu werden (Art. 9 S. 1 RV). Der Bundesrat erreichte in der politischen Praxis nicht die Bedeutung, die intendiert war und die ihm die Verfassung zuschrieb.[28] Tonangebend waren der Kaiser und sein Reichskanzler. Der Reichstag erlangte erst in der Spätphase des Kaiserreichs steigende Bedeutung.
b) Reichstag
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Der Reichstag war das erste gesamtdeutsche Parlament nach der Paulskirchenversammlung. Die Wahlen hatten allgemein, direkt und geheim zu erfolgen (Art. 20 Abs. 1 RV). Vorbild für das Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes (sog. Bundeswahlgesetz) vom 31. Mai 1869[29], das um das Reglement zur Ausführung des Wahlgesetzes vom 28. Mai 1870[30] ergänzt wurde und bis 1918 galt, war das Frankfurter Reichswahlgesetz von 1849. Hinsichtlich der Allgemeinheit der Wahl bestand – im Vergleich zu heute – eine gewichtige Einschränkung: Das Wahlrecht stand nur Männern ab dem vollendeten („zurückgelegten“) 25. Lebensjahr zu (§§ 1, 4 des Bundeswahlgesetzes). Die Gleichheit der Wahl wurde in der Verfassung und im Wahlgesetz nicht erwähnt. Sie bestand nur hinsichtlich des Zählwerts, keineswegs aber hinsichtlich des Erfolgswerts: In jedem Wahlkreis errang der Bewerber mit den meisten Stimmen das Mandat (Ein-Mann-Wahlkreise).
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Wegen des Zuschnitts und der ungleichen Bevölkerungszahl in den Wahlkreisen benötigten die Parteien äußerst unterschiedliche durchschnittliche Stimmenmengen pro Reichstagsmandat. So genügten im Jahr 1871 den Konservativen durchschnittlich 9.600 und den Nationalliberalen 9.300 Stimmen; die SPD benötigte im Schnitt hingegen 62.000 Stimmen. Im Jahr 1907 benötigten die Konservativen pro Mandat 17.700, das Zentrum 20.800 und die SPD 75.800 Stimmen.[31] Eine Wahlrechtsreform vom 24.8.1918[32] beseitigte gröbere Ungleichheiten. Die Mitgliederzahl des Reichstages wurde von 397 auf 441 angehoben. Die neuen Sitze wurden bis dahin verhältnismäßig zu schwach vertretenen Orten mit hoher Bevölkerungsdichte und damit vor allem den größten Städten und einigen Industriebezirken, zugeteilt. Die größten Städte, z.B. Berlin, Frankfurt a.M., München und Hamburg, bildeten jeweils einen Wahlkreis (§ 2 des Gesetzes). In weiteren großen Städten, z.B. Köln und Düsseldorf, wurden Wahlkreise zusammengelegt (§ 3 des Gesetzes). Die Abgeordneten dieser Wahlkreise waren nach dem Verhältniswahlrecht (und nicht mehr nach dem Mehrheitswahlrecht) zu wählen (§§ 4-6 des Gesetzes). Bedeutung konnte diese Reform nicht mehr gewinnen.
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Im Gegensatz zum Reichstagswahlrecht waren die Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus, der Zweiten Kammer des preußischen Parlaments, nicht unmittelbar und nicht geheim. Die Abgeordneten wurden durch Wahlmänner gewählt. Die Wahl der Wahlmänner durch das Wahlvolk und die Wahl der Abgeordneten durch die Wahlmänner erfolgten öffentlich und mündlich. Eine eklatante Ungleichheit ergab sich aus der Abstufung des Stimmengewichts nach der Höhe der gezahlten direkten Steuern (Dreiklassenwahlrecht). Das anachronistische Wahlrecht, das auf einer Verordnung vom 30. Mai 1849 beruhte, blieb bis zur Revolution im November 1918 in Kraft.
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Der Reichstag besaß folgende Kompetenzen: Er wirkte an der Gesetzgebung mit (Art. 5 RV) und hatte ein Gesetzesinitiativrecht (Art. 23 RV). In der Praxis wurde die Initiative allerdings in der Regel der Reichsleitung (der Bürokratie, den „Fachleuten“ – im Gegensatz zum Abgeordneten als „Parteipolitiker“) überlassen. Denn Regieren galt personell wie sachlich als gesteigerte Form des überparteilichen Verwaltens.[33] Der Reichstag verabschiedete den Reichshaushalt in Form eines Gesetzes (Art. 69 RV). Er genehmigte auswärtige Verträge, welche Gegenstände der Reichsgesetzgebung betrafen (Art. 11 Abs. 3 RV). Das Parlament hatte keinen Einfluss auf die personelle Zusammensetzung und politische Gesamtrichtung der Reichsleitung. Die parlamentsrechtlichen Artikel der Verfassung des Norddeutschen Bundes und der Reichsverfassung waren, z.T. wörtlich, der Preußischen Verfassung von 1850 nachgebildet.[34]
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Die Einberufung, Vertagung und „Schließung“ des Parlaments stand allein dem Kaiser zu (Art. 12 RV). Der Reichstag durfte sich nicht aus eigenem Antrieb versammeln. Der Kaiser durfte den Reichstag jederzeit auflösen, sofern der ihm in aller Regel gewogene Bundesrat zustimmte. Der Reichstag nahm die Mandats- und Wahlprüfung autonom vor (Art. 27 S. 1 RV, §§ 3 ff. GO-RT). Seine Mitglieder hatten ein freies Mandat inne (Art. 29). Sie genossen Indemnität (Art. 30) und Immunität (Art. 31 RV). Diäten, d.h. ein Abgeordnetengehalt, durften Reichstagsabgeordnete (anders als die Mitglieder mitgliedstaatlicher Parlamente) zunächst nicht erhalten (Art. 32 RV). Erst 1906 wurde das Diätenverbot durch eine Verfassungsänderung aufgehoben. Damit sollte das Problem gelöst werden, dass wegen des Diätenverbots viele Abgeordnete an den Sitzungen nicht teilnahmen und der Reichstag dauernd beschlussunfähig war.[35] Der Reichstag bestimmte allein über den Geschäftsgang und die Disziplin in seinen Sitzungen (Art. 27 S. 2 RV, Geschäftsordnungsautonomie). Als Geschäftsordnung (GO-RT) übernahm er am 21. März 1871 die Geschäftsordnung des Reichstages des Norddeutschen Bundes vom 12. Juni 1868. Sie baute auf der Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses vom 6. Juni 1862 auf. Der Reichstag besaß eine Parlamentsverwaltung, die in den Anfangsjahren beim Kanzleramt und ab 1878 beim Reichsamt des Innern angesiedelt war. Die Parlamentsmitarbeiter