Kirchliche Vorbilder und Einflüsse sind unverkennbar. Sie zeigen sich z.B. bei der Organisation der Ständeversammlungen. Die fortschrittlichen Wahl- und Beratungstechniken der Orden, Synoden und Konzilien[6] sowie das Mehrheitsprinzip[7] konnten sich teilweise durchsetzen.
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Die deutsche Entwicklung sei etwas näher betrachtet: Deutschland war lange ein Sprach- und Kulturraum, aber kein Staat. Das Heilige Römische Reich („Altes Reich“) war ein juristisch schwer zu fassender „Flickenteppich“ aus über 250 Territorien. Anders als in Spanien, Frankreich und England vollzog sich die Ausbildung des modernen Staates auf territorialer Ebene, nicht auf der Ebene des Alten Reiches. Aus dem mittelalterlichen, unregelmäßig stattfindenden „Hoftag“ entwickelte sich nach 1470 der Reichstag als Versammlung der Reichsstände des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Reichsstände waren die bereits erwähnten über 250 reichsunmittelbaren Territorien. Sie besaßen Sitz und Stimme im Reichstag. Ihr Einverständnis war unter anderem bei der Steuerbewilligung, der Erklärung von Krieg und Frieden sowie Bündnisverträgen erforderlich. Die Reichsstände waren sehr mächtig, da eine Zentralgewalt weitgehend fehlte. Die Reichstage unterschieden sich von modernen Parlamenten in elementarer Weise: Die Teilnahmeberechtigten der Reichstage waren nicht von irgendjemandem, gar von ihren Untertanen beauftragt. Sie beanspruchten vielmehr als Herrschaftsträger von sich aus Mitspracherechte und zwar entweder als Personen (so die Kurfürsten und Fürsten) oder als Korporationen (so die Städte oder Klöster). Der Reichstag verhandelte über Interessen der Stände und nicht über die Interessen des Volkes. Außerdem waren der Kaiser und seine Berater als Frühform einer „Regierung“ nicht – wie heutige Regierungen – von der Ständeversammlung abhängig. Der Kaiser wurde vielmehr von den sieben[8] Kurfürsten auf Lebenszeit gewählt. Ferner tagte der Reichstag nicht – wie moderne Parlamente – ständig. Teilweise fanden jahrzehntelang keine Reichstage statt, etwa während des Dreißigjährigen Krieges. Erst seit 1663 tagte der Reichstag „immerwährend“ als Gesandtenversammlung in Regensburg. Die Gesandten besaßen auch nicht – wie heutige Abgeordnete – ein freies Mandat. Sie unterlagen den Vorgaben des Reichsstandes, für den sie auftraten (imperatives Mandat). Manche Gesandten vertraten auch mehrere Reichsstände, da sich gerade die kleineren Stände einen eigenen ständigen Vertreter nicht leisten konnten. Ein weiterer Unterschied zum modernen Parlament: Die Beschlüsse wurden nicht „nach Köpfen“ in einer einheitlichen Versammlung gefasst, sondern getrennt in drei Kollegien (Kurfürsten – Reichsfürsten – Reichsstädte). Das Reichsfürstenkollegium war weiter unterteilt in Kurien. Ein Beschluss des Reichstages („Reichsschluss“) kam zustande, wenn alle drei Kollegien übereinstimmten und der Kaiser den Beschluss ratifizierte. Innerhalb der Kollegien wurde mit Mehrheit entschieden. Die vom Kaiser ratifizierten Beschlüsse wurden seit 1497 in einem „Reichsabschied“ zusammengefasst.
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Auf der Ebene einzelner Reichsstände, d.h. der Territorien (wie Bayern, Brandenburg) existierten Landtage als Versammlung der Landstände, also bestimmter bevorzugter Gruppen von Angehörigen eines Territoriums (ähnlich den Reichsständen), und nicht etwa der Bevölkerung. Ihre Kompetenzen, z.B. bei der Steuerbewilligung, ähnelten denen der Reichsstände. Die Ständeversammlungen waren zumeist ebenfalls im Dreikuriensystem organisiert. Das Bewilligungsrecht sorgte immer wieder für Auseinandersetzungen, z.B. im 17. Jh. zwischen dem brandenburgischen „Großen Kurfürsten“ Friedrich Wilhelm und den Ständen seiner Territorien. Viele deutsche Landesfürsten versuchten – wie etwa auch die französischen Könige – den Einfluss der Stände zu beschränken oder ganz auszuschließen und somit gänzlich absolut zu herrschen.
§ 2 Geschichte der Parlamente und des Parlamentsrechts › II. Volksvertretungen in der konstitutionellen Monarchie
1. Ausländische Vorbilder
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Mit der Französischen Revolution erfolgte in Frankreich ein schlagartiger Übergang[9] von der (bis dahin über 175 Jahre ausgeschalteten) Ständeversammlung der absoluten Monarchie zur Volksvertretung einer konstitutionellen Monarchie und dann einer Republik. Der Dritte Stand der Generalstände erklärte sich unter Einladung der Vertreter der beiden anderen Stände Adel und Geistlichkeit zur verfassunggebenden Nationalversammlung (17. Juni 1789). Er beanspruchte die Rolle der nationalen Gesamtrepräsentation. Eine Abstimmung sollte künftig nach Köpfen, nicht nach Ständen erfolgen. In den Worten des einflussreichen Abbé Emmanuel Joseph Sieyès: „par têtes et non par ordres“. Unter Napoleon Bonaparte, der ab 1799 Erster Konsul der Republik und ab 1804 als Napoleon I. „Kaiser der Franzosen“ war, kam es zu einem verfassungsrechtlichen „roll-back“. Die republikanischen Institutionen bestanden auf dem Papier fort. Die wahre Macht aber lag beim Kaiser. Nach dessen (erster) Absetzung im Jahr 1814 wurde die monarchische Macht „restauriert“. Der Bourbone Ludwig XVIII. wurde als König eingesetzt. Die frühere absolute Herrschaft des Hauses Bourbon war jedoch Vergangenheit. Der neue Monarch gab dem Land im Jahr 1814 eine Verfassung, die „Charte constitutionnelle“ (sog. Restaurationsverfassung). In der Julimonarchie ab 1830 bildete sich schrittweise ein parlamentarisches Regierungssystem heraus. Die Charte constitutionelle war ein wichtiges Vorbild für ganz Kontinentaleuropa. In der zweiten Verfassungswelle ab 1830 wurde dann die Belgische Verfassung von 1831 zum einflussreichen Vorbild. An beiden Verfassungen orientierten sich auch deutsche Staaten.
2. Deutscher Bund
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Als Ergebnis des Wiener Kongresses (1814/15), der nach Napoleons (erstem) Thronverlust zusammentrat, entstand durch die Deutsche Bundesakte (DBA) im Jahr 1815 der Deutsche Bund aus 41 souveränen deutschen Staaten mit dem Bundestag als Gesandtenkongress (Art. 4 DBA). Der Bundestag knüpfte äußerlich an den Reichstag des Alten Reiches an. Für die Entwicklung des Parlamentarismus war Art. 13 DBA (konkretisiert durch Art. 57 ff. der Wiener Schlussakte von 1820) bedeutsam: „In allen Staaten sollen landständische Verfassungen stattfinden.“ Begriff und Reichweite der „landständischen Verfassung“ waren umstritten. Unbestritten war, dass der Monarch bzw. das Patriziat in den Stadtstaaten sich künftig durch eine Verfassung binden sollte und diese Verfassung auch eine mindestens beratende Versammlung vorzusehen hatte. Dieses System der durch eine Verfassung gebundenen Monarchie wird als Konstitutionalismus bezeichnet. Die ersten Verfassungen erließen („gaben“) die Monarchen der süddeutschen Staaten Nassau, Baden, Bayern, Württemberg und des Großherzogtums Hessen in den Jahren 1814-24 (süddeutscher Frühkonstitutionalismus). In einer zweiten, nach der Julirevolution in Frankreich im Jahr 1830 einsetzenden „Welle“ erließen dann weitere, in der Mitte und im Norden des Deutschen Bundes herrschende Monarchen Verfassungen (mitteldeutscher Konstitutionalismus). Beispiele sind Kurhessen, das Königreich Sachsen und das Königreich Hannover (1833). Bis 1848 besaßen die meisten der 39 Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes eine Verfassung. Eine gewichtige Ausnahme stellten Preußen und Österreich sowie einige norddeutsche Staaten dar. Preußen erhielt 1848 eine oktroyierte Verfassung. Sie wurde 1850 modifiziert und war bis 1918 in Kraft. Das (aus zwei Teilen bestehende) Großherzogtum Mecklenburg hatte bis 1918 sogar nur eine landständische Ordnung von 1755 auf frühneuzeitlichem Stand. In der Regel war das Staats- und Verfassungsrecht in den süd- und mitteldeutschen Staaten fortschrittlicher als in den übrigen deutschen Staaten. Als das fortschrittlichste Staatsgrundgesetz vor 1848 gilt die kurhessische Verfassung vom 5. Januar 1831.[10] In der zweiten Hälfte des 19. Jh. war die Preußische Verfassung von 1850 maßgebend.
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In den meisten Staaten des Deutschen Bundes wurden – mit Ausnahme der größten Staaten Preußen und Österreich sowie einiger kleinerer Staaten – bis 1848 sog. Kammern als Vorstufe der Volksvertretung eingerichtet. In der