Der Krimi in Literatur, Film und Serie. Stefan Neuhaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Neuhaus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846355565
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soll am abschließenden Beispiel dieses Kapitels noch einmal gezeigt werden. Krimis kreisen um ein Verbrechen und sie haben Merkmale von Detektiverzählung und / oder Thriller. Während bei SchillerSchiller, Friedrichs Der Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre die Detektion fehlt, spielt sie in FontaneFontane, Theodors Unterm BirnbaumUnterm Birnbaum eine nicht unwesentliche Rolle, auch wenn sie – oder gerade weil sie – vom Täter beabsichtigt zu falschen Ergebnissen führt. In Nele NeuhausNeuhaus, Nele’ Böser WolfBöser Wolf wird die Handlung auch durch die Detektion vorangetrieben, doch entfaltet sich das Geschehen dynamisch und die Ermittler*innen sind oftmals überfordert und hinken der Entwicklung hinterher. Thrillerelemente, verstanden als spannungserzeugendes und auf ‚böse‘ Taten gerichtetes Handeln, gibt es schon bei Schiller und auch bei Fontane und Neuhaus. Sie sind konstitutiv für die meisten Krimis und sie sind wohl nur bei besonderen Detektiverzählungen, die sich auf die Auflösung eines zurückliegenden Falls konzentrieren, zu vernachlässigen.

      Freilich bleibt es dabei, dass Krimi der Oberbegriff ist, da er alle Texte und Filme meint, die um ein Verbrechen kreisen. Insofern muss man mit der Unschärfe leben und sich stets fragen, was weshalb im engeren oder weiteren Sinn als Krimi bezeichnet werden kann.

      4.2 Der Anfang im 18. Jahrhundert mit der Frage nach dem Motiv der (Un-)Tat: Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786)

      Als der erste bedeutende moderne Krimi im engeren und im weiteren Sinn kann Schillers Erzählung gelten, die nicht nur ein Verbrechen schildert, sondern auch und besonders die Frage nach der Motivation hinter der Tat stellt und deshalb den Täter als individuelle Figur zeichnet. Schiller hatte Vorlagen, die auf einen realen Fall zurückgehen – den des sogenannten ‚Sonnenwirts‘ Friedrich SchwanSchwan, Friedrich (1729-60): „Es handelte sich um einen wegen Mordes und Raubes im Juni 1760 in Mergentheim öffentlich geräderten Kriminellen, der auch jenseits der Grenzen Schwabens als berüchtigt galt“ (Alt 2009, 513). Der Erstdruck in der Zeitschrift Thalia trug noch den Titel Verbrecher aus Infamie, eine wahre Geschichte. 1792 erschien dann, diesmal auch unter Schillers Namen, eine zweite, im Text nur leicht veränderte Druckfassung (in den Kleineren prosaischen Schriften) mit dem geänderten Titel (vgl. Schiller 1993b, 1060f.).

      Die Bewertung wird damit deutlich verändert, der Verbrecher wird nicht mehr als ‚infam‘ bezeichnet – auch wenn der ursprüngliche Titel ein Kunstgriff gewesen sein kann, um das Lesepublikum, das wenig Sympathie für Verbrecher wie den seinerzeit bekannten ‚Sonnenwirt‘ gehabt haben dürfte, im Laufe der Erzählung zu einer milderen Auffassung zu bekehren. Schließlich bezeichnet sich die Hauptfigur des Wilhelm Tell (1804) in ihrem berühmten Monolog in der ‚hohlen Gasse‘ als Mörder, obwohl das Schauspiel keinen Zweifel daran lässt, dass es sich bei dem ‚Mord‘ an Landvogt Geßler um eine absolut notwendige Tat handelt, mit der Tell unschuldige Leben rettet und die Schweiz von der Tyrannei befreit (Neuhaus 2017a, 112). Dennoch ist der zweite Titel Der Verbrecher aus verlorener Ehre präziser und er macht neugieriger, weil er den Verlust der ‚Ehre‘ als zentrales Ereignis setzt und implizit die Frage aufwirft, wie es so weit kommen konnte.

      Bereits der Anfang (des Zweitdrucks, dem hier gefolgt wird) setzt die Motivation der Tat zentral und betont darüber hinaus noch ihre allgemeine Bedeutung:

      In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen. Bei jedem großen Verbrechen war eine verhältnismäßig große Kraft in Bewegung. Wenn sich das geheime Spiel der Begehrungskraft bei dem matteren Licht gewöhnlicher Affekte versteckt, so wird es im Zustand gewaltsamer Leidenschaft desto hervorspringender […]. (Schiller 1993b, 13)

      Erstaunlich ist, dass Schillers Erzählung hier bereits, mehr als ein Jahrhundert vor den wichtigen Schriften Sigmund Freuds und lange vor den Ereignissen und Einsichten des 20. Jahrhunderts, alle Menschen als potenzielle Täter sieht, wenn die „Begehrungskraft“ nur, durch äußere Umstände und Einflüsse angestachelt, groß genug wird. Auch wenn betont wird, dass es „die republikanische Freiheit des lesenden Publikums“ sei, „selbst zu Gericht zu sitzen“ (Schiller 1993b, 14), so wird doch ebenso hervorgehoben, dass die Figur, um die es geht, zwar „durch des Henkers Hand“ gestorben sei, dass aber die „Leichenöffnung seines Lasters“ dennoch die Auffassung von „Gerechtigkeit“ modifizieren werde (Schiller 1993b, 15).

      Die Leserlenkung wird durch die Namensgebung fortgesetzt. Christian Wolf ist ein paradoxer Name, der das Christliche und das Kreatürliche, den Heilsbringer der Menschen und das gefürchtete Raubtier zusammenbringt. Wir erfahren, dass der Vater gestorben ist und der Sohn seiner Mutter hilft, mehr schlecht als recht die ‚schlechte‘ Gastwirtschaft zur „Sonne“ zu betreiben (Schiller 1993b, 16). Zu den sozialen Nachteilen kommen physische: „Die Natur hatte seinen Körper verabsäumt“ (ebd.). Diese Ausgangssituation wird bereits bestimmend für Wolfs weiteres Leben: „Er wollte ertrotzen, was ihm verweigert war; weil er mißfiel, setzte er sich vor, zu gefallen. Er war sinnlich und beredete sich, daß er liebe. Das Mädchen, das er wählte, mißhandelte ihn […]“ (ebd.). Um sie mit Geschenken zu beeindrucken wird Wolf ein „Wilddieb“, damit konkurriert er aber auf fatale Weise mit einem seiner Nebenbuhler um die Gunst „Hannchens“. Es handelt sich um „Robert, ein Jägerpursche des Försters“ (ebd.). Der schafft es, Wolf auf die Spur zu kommen, und erreicht eine Bestrafung, die den jungen Wirt um sein ‚ganzes kleines Vermögen‘ bringt (Schiller 1993b, 17).

      Einmal auf dem abschüssigen Weg, macht Wolf weiter – er wird wieder von Robert überführt und muss nun für ein Jahr ins Zuchthaus (ebd.). Danach möchte er sich bessern, doch es wird ihm nicht erlaubt:

      Das Strafjahr war überstanden, seine Leidenschaft durch die Entfernung gewachsen und sein Trotz unter dem Gewicht des Unglücks gestiegen. Kaum erlangt er die Freiheit, so eilt er nach seinem Geburtsort, sich seiner Johanne zu zeigen. Er erscheint: man flieht ihn. Die dringende Not hat endlich seinen Hochmut gebeugt und seine Weichlichkeit überwunden – er bietet sich den Reichen des Orts an und will für den Taglohn dienen. Der Bauer zuckt über den schwachen Zärtling die Achsel; der derbe Knochenbau seines handfesten Mitbewerbers sticht ihn bei diesem fühllosen Gönner aus. Er wagt einen letzten Versuch. Ein Amt ist noch ledig, der äußerste verlorne Posten des ehrlichen Namens – er meldet sich zum Hirten des Städtchens, aber der Bauer will seine Schweine keinem Taugenichts anvertrauen. In allen Entwürfen getäuscht, an allen Orten zurückgewiesen, wird er zum drittenmal Wilddieb, und zum drittenmal trifft ihn das Unglück, seinem wachsamen Feind in die Hände zu fallen. (ebd.)

      Die Bewertung des Verhaltens der ironisch so bezeichneten ‚Gönner‘ ist eindeutig, nicht einmal Schweine werden dem reuigen Sünder anvertraut. Man kann hier auch eine Anspielung auf die Bibel erkennen, darin lässt Jesus die Dämonen in Schweine fahren und ertrinken (Markus 5, 1-20). Christian Wolf wird aber gerade keine Erlösung zuteil wie dem Mann, der von den bösen Geistern beherrscht und von Jesus geheilt wird. Der Eindruck der Inhumanität des Verhaltens gegenüber Christian Wolf wird durch den intertextuellen Verweis noch verstärkt.

      Aller schlechten Dinge sind in dem Fall drei und der dritte Rückfall wird mit drei Jahren Zuchthaus bestraft, die aus Wolf endgültig einen Verbrecher werden lassen. Der Erzähler wählt, um die Glaubwürdigkeit der Schilderung zu erhöhen, die direkte Rede einer als ehrlich markierten Zeugenaussage:

      Auch diese Periode verlief, und er ging von der Festung – aber ganz anders, als er dahin gekommen war. Hier fängt eine neue Epoche in seinem Leben an; man höre ihn selbst, wie er nachher gegen seinen geistlichen Beistand und vor Gerichte bekannt hat. „Ich betrat die Festung“, sagte er, „als ein Verirrter und verließ sie als ein Lotterbube. Ich hatte noch etwas in der Welt gehabt, das mir teuer war, und mein Stolz krümmte sich unter der Schande. Wie ich auf die Festung gebracht war, sperrte man mich zu dreiundzwanzig Gefangenen ein, unter denen zwei Mörder und die übrigen alle berüchtigte Diebe und Vagabunden waren. Man verhöhnte mich, wenn ich von Gott sprach, und setzte mir zu, schändliche Lästerungen gegen den Erlöser zu sagen. Man sang mir Hurenlieder vor, die ich, ein lüderlicher Bube, nicht ohne Ekel und Entsetzen hörte, aber was ich ausüben sah, empörte