Der Krimi in Literatur, Film und Serie. Stefan Neuhaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Neuhaus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846355565
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bewältigen“ (Anz 1998, 129-133).

      Beim Kriminalfilm gelten analoge Unterscheidungen zur Kriminalliteratur, so finden sich etwa die Kategorien Detektivfilm, Polizeifilm, Gangsterfilm (mit der Variante „Serienkillerfilm“), Gerichtsfilm, Gefängnisfilm, Thriller (mit der Sonderform „Politthriller“), Spionagefilm und film noir, wobei sich in allen Subgenres auch Komödien finden (Hickethier 2005, 17-26). Es kann beispielsweise entweder der Detektiv und die Detektion im Mittelpunkt stehen oder aus der „Perspektive des Opfers der Intrige“ (Koebner / Wulff 2013, 10) die Handlung geschildert werden. Die meisten fiktionalen Texte und Filme mischen die genannten Muster, idealtypische Beispiele für die genannten Subgenres finden sich – wie in der Literatur – eher selten.

      Zu den besonders häufig genutzten Möglichkeiten von Kriminalfilmen gehört, aus der Perspektive einer ‚poetischen Gerechtigkeit‘ auf soziale Ungleichheiten aufmerksam zu machen und über die Figurencharakterisierung auch Empathie für auf die aus solchen Ungleichheiten resultierenden oder auf deren Beseitigung zielenden Verhaltensweisen zu wecken (Nussbaum 1995, 87 u. 115). Dabei stehen oft verschiedene Auffassungen von Gerechtigkeit in einem produktiven Spannungsverhältnis. Auf diese Weise werden, wie in der philosophischen und philologischen Theoriebildung, juristische oder moralische Normen als Basis des (Ver-)Urteilens und Kategorien wie ‚Gut‘ und ‚Böse‘ als Zuschreibungen kenntlich (Eagleton 2012, 164).

      Angesichts der Komplexität der heutigen Gesellschaft, die eigentlich nur noch über die audiovisuellen Massenmedien und die sogenannten Neuen Medien in einer spezifischen Medienrealität vermittelbar ist (Luhmann 2004), werden etablierte Kategorien doppelt (und im Wortsinn) fragwürdig. Das Kommunizieren ‚guter‘ Überzeugungen bedingt nicht unbedingt ‚gutes‘ Handeln und ‚gutes‘ Handeln kann ‚böse‘ Folgen haben.

      Das Krimi-Genre hat alle Medien erobert und die meisten bereits, sobald sie entstanden. Ein Beispiel für die beispiellose Erfolgsgeschichte ist ‚der berühmteste Comic-Detektiv aller Zeiten‘, Dick Tracy, der 1931 in einer Sonntagsbeilage des Detroit Mirror das Licht der Welt erblickte (Seeßlen 2011, 91). Zu den Comic-Ermittlern zählt auch die Hauptfigur in Les aventures de TintinLes aventures de Tintin, auf Deutsch: Tim und Struppi, die weltberühmte Serie von Comics des belgischen Zeichners HergéHergé, in einigen ihrer Abenteuer. Im deutschsprachigen Raum sehr erfolgreich wurde Manfred SchmidtSchmidt, Manfreds Figur Nick Knatterton, die in parodistischer Weise an Sherlock Holmes angelehnt war. Der Name spielt auf die zuvor erfolgreich in Heftromanen ermittelnden Detektivfiguren Nick Carter und Nat Pinkerton an. Zwischen 1950 und 1959 erschien Nick Knatterton als Comicserie in der Illustrierten Quick. 1959 und 1979 kam es zu Medienwechseln zuerst in den ‚Realfilm‘ und dann in den Trickfilm. Im Bereich von Kinderliteratur und Hörspiel besonders bekannt ist nach wie vor die von Robert ArthurArthur, Robert und anderen geschaffene Serie The Three InvestigatorsThe Three Investigators (Die drei ???). Von 1968 bis heute soll die Zahl der verkauften Tonträger allein in Deutschland über 45 Millionen betragen, dazu kommen über 16,5 Millionen verkaufte Bücher.

      Die Geschichte des Kriminalfilms ist so alt wie die Geschichte des Films. Bereits frühe Filme thematisieren Verbrechen, etwa The Great Train RobberyThe Great Train Robbery, ein zwölfminütiger US-amerikanischer Film von 1903, er gilt auch als der erste Western und erste Actionfilm der Filmgeschichte. Sogar noch etwas älter ist ein einminütiger Film, der bereits im Titel unschwer als Detektivfilm zu erkennen ist: Sherlock Holmes BaffledSherlock Holmes Baffled von Arthur MarvinMarvin, Arthur (1900). Holmes ist eine der ersten Starfiguren der Filmgeschichte. In Deutschland entstehen 1910 „zwei Filme, in denen Sherlock Holmes Arsène Lupin, den zweiten der großen Gentleman-Ganoven der populären Literatur (erfunden von dem französischen Autor Maurice Leblanc), zum Gegner hatte“ (Seeßlen 1998, 56). Eine Holmes ähnliche Figur zieht wenig später mit dem Meisterdetektiv Stuart Webbs in den deutschen Kriminalfilm ein (Kracauer 1984, 25). Die geheimnisvolle Villa ist der erste Film der Produzenten Joe MayMay, Joe und Ernst ReicherReicher, Ernst aus einer Serie von 1913 bis 1929; bei den frühen Produktionen führte Joe May auch Regie. Wie Sir Arthur Conan DoyleConan Doyle, Arthurs Sherlock Holmes, der in verschiedenen Ländern zur Filmfigur wurde, ist Webbs ein Bote des Glaubens an den Sieg der Logik und des Guten: „Der Detektiv, der auf eigene Faust und kraft seines Verstands das Spinngewebe irrationaler Mächte zerreißt und Anständigkeit über dunkle Triebe siegen läßt, ist der prädestinierte Held einer zivilisierten Welt, die an das Glück von Aufklärung und individueller Freiheit glaubt“ (Kracauer 1984, 26).

      Nach dem Ersten Weltkrieg ist das Vertrauen in aufklärerische Positionen nachhaltig erschüttert. Es entstehen Filme wie Das Cabinet des Dr. CaligariDas Cabinet des Dr. Caligari (1920, Regie führte Robert WieneWiene, Robert). Die auf realen Ereignissen beruhende Mordhandlung wird durch einen unzuverlässigen Erzähler gerahmt, so dass „die Phänomene auf der Leinwand als Phänomene der Seele“ (Kracauer 1984, 77) erscheinen. Die Rahmung, das Irrationale und zugleich auf faszinierende Weise Autoritäre Caligaris, die mit Mitteln des Expressionismus erfolgte Inszenierung seines zwar lokalen, aber terroristischen und ‚wahnsinnigen‘ Regimes lassen die titelgebende Figur zu einer „Vorahnung Hitlers“ werden (Kracauer 1984, 79). Ein nicht weniger berühmtes Beispiel ist die Figur des Dr. Mabuse (Kracauer 1984, 89), wie sie Fritz LangLang, Fritz als Regisseur und seine Frau Thea von HarbouHarbou, Thea von als Drehbuchautorin in Szene setzen, in den Filmen Dr. Mabuse, der SpielerDr. Mabuse, der Spieler (1922) und Das Testament des Dr. MabuseDas Testament des Dr. Mabuse (1933). Der größenwahnsinnige Verbrecher, sein Stellvertreter und ihre kriminelle Organisation sind im zweiten Film als deutliche Anspielungen auf die NS-Bewegung und ihre Führer konzipiert.

      Fritz Lang und Thea von Harbou haben die Filmgeschichte geprägt, auch mit dem Science-Fiction-Klassiker MetropolisMetropolis (1927) und mit SpioneSpione (1928), dem genrebildenden frühen Beispiel des Spionagefilms. Ein Bankdirektor hat eine kriminelle Organisation geschaffen, die mit Staatsgeheimnissen handelt. Der Agent „No. 326“ (Willy FritschFritsch, Willy) und die zunächst auf ihn angesetzte Sonja Barranikowa legen Direktor Haghi (Rudolf Klein-RoggeKlein-Rogge, Rudolf), der zudem als Informant des Geheimdienstes gezielt falsche Informationen gestreut hat, schließlich das Handwerk. Der Film etabliert viele Motive, die später beispielsweise in Alfred HitchcockHitchcock, Alfreds Spionage-Thriller Die 39 StufenDie 39 Stufen (1935) oder in den James-BondJames Bond-Verfilmungen Verwendung finden.

      Im Nationalsozialismus wurden Literatur und Massenmedien gleichgeschaltet und es gab klare Zuschreibungen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘, die ideologisch-rassistisch motiviert waren. Die meisten klugen, innovativen Filmemacher und Schauspieler kehrten dem Dritten Reich den Rücken, viele gingen, wie Fritz LangLang, Fritz, nach Hollywood. Nach dem Krieg setzte eine Aufarbeitung der historischen Entwicklung ein, die auch den Kriminalfilm betraf. 1959 drehte Wolfgang StaudteStaudte, Wolfgang Rosen für den StaatsanwaltRosen für den Staatsanwalt, eine Abrechnung mit der Nachkriegsgesellschaft, die von allem nichts gewusst haben wollte, am Beispiel eines Richters, der in der NS-Justiz eine hohe Position bekleidet hatte und nach 1945 weiter seiner Tätigkeit nachgehen darf. Eine Kriminalhandlung motiviert die Erzählung: Kurz vor Kriegsende wird der Gefreite Rudi Kleinschmidt (ein sprechender Name; Walter GillerGiller, Walter spielt die Rolle) vom Kriegsgerichtsrat Dr. Wilhelm Schramm (Martin HeldHeld, Martin) wegen des angeblichen Diebstahls von Schokolade zum Tode verurteilt; nur ein Zufall rettet sein Leben. Nach dem Krieg treffen sich die beiden wieder. Schramm hat seine Mittäterschaft verschwiegen und ist Oberstaatsanwalt geworden, an seinen autoritären und rassistischen Ansichten hat sich nichts geändert. Der von der Hand in den Mund lebende Kleinschmidt stiehlt schließlich noch einmal Schokolade, er wird vor denselben Richter geführt und der beantragt, weil er sich an die frühere Verhandlung erinnert, versehentlich wieder die Todesstrafe. Der entlarvte Richter begibt sich auf die Flucht, Kleinschmidt beginnt vermutlich ein neues Leben mit seiner Freundin. Trotz des harmonisierenden Happy Ends stellt der Film, am Beispiel der paradigmatischen Autoritäts-Figur eines Richters, die tabuisierte Frage nach der Mitschuld der scheinbar so respektablen und integrierten Nachkriegs-Deutschen am Nationalsozialismus.

      Auch Produktionen der Nachkriegszeit verarbeiten allgemeine Probleme von Kriminalität, um auf den zeitgenössischen Diskurs zu wirken. Kein Geringerer als Friedrich DürrenmattDürrenmatt,