Der Krimi in Literatur, Film und Serie. Stefan Neuhaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Neuhaus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846355565
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Traditionen des Krimis aufmerksam gemacht, etwa die Newgate Novel mit so frühen prominenten Vertretern wie Daniel DefoeDefoe, Daniel (Hamann 2016, 13).

      Hier liegt die Crux der Geschichte des Krimis und vor allem der Versuche seiner wissenschaftlichen Aufarbeitung. Zahlreiche Forschungen tradieren entweder unkritisch frühe Festlegungen oder sie kommen zu merkwürdigen partikularen Beobachtungen, für die hier nur ein Beispiel genannt werden soll. Caspar Battegay meint am Beispiel von Friedrich DürrenmattDürrenmatt, Friedrichs Der VerdachtDer Verdacht (1958) feststellen zu müssen: „Nach Auschwitz lässt sich kein Kriminalroman mehr schreiben“ (Battegay 2015, 174). Nun ist schon das AdornoAdorno, Theodor W.-Diktum von den Gedichten, die man nach Auschwitz nicht mehr schreiben könne, einseitig und falsch tradiert worden (vgl. Kiedaisch 1995). Auch Dürrenmatts Romane, in denen stets eine Detektivfigur einen Verbrecher zur Rechenschaft ziehen möchte, sind Kriminalromane. Sie subvertieren das Genre, indem sie seine Begrenzungen mit thematisieren, dies wird am Beispiel von Dürrenmatts Das VersprechenDas Versprechen (1953) und seiner Verfilmung Es geschah am hellichten TagEs geschah am hellichten Tag (1958) noch zu zeigen sein.

      Bereits die frühen Beispiele des Krimis unterlaufen das sich etablierende Genre und selbst die als kanonisch angesehenen Texte spielen mit dem Muster, das sie zugleich etablieren. Dies ist eigentlich nichts Ungewöhnliches, sondern stets ein Kennzeichen ‚guter‘ Literatur:

      Another way of putting this point is that good literature is disturbing in a way that history and social science writing frequently are not. Because it summons powerful emotions, it disconcerts and puzzles. It inspires distrust of conventional pieties and exacts a frequently painful confrontation with one’s own thoughts and intentions. (Nussbaum 1995, 5)

      Die Festlegung von Genremerkmalen kann deshalb nur mit einer notwendigen Unschärfe geschehen: „Ein erklärendes Gesetz aufzustellen wäre in etwa gleichbedeutend mit dem Anhalten oder Festschreiben des Zeichenprozesses“ (Kessler 2012, 218). Literatur, die nicht nur unterhalten will (und solche wäre lediglich als Gegenstand literatursoziologischer oder literaturpsychologischer Studien interessant), ist immer innovativ und reflexiv.

      Der Krimi ist ein altes Genre, das hochgradig intertextuell ist, indem es „stets intensiv – implizit und explizit – seine Vorgänger“ zitiert (Hamann 2016, 15), und das jeweils aktuell ist, weil es auf die „medialen und technischen Innovationen“ seiner Zeit reagiert (Hamann 2016, 17), ebenso auf die sozialen Fragen und politischen Probleme.

      Die Geschichte des Krimi-Genres beginnt daher mit der Pitaval-Literatur, die fortgeschrieben wird, aber dokumentarischen Charakter hat oder zumindest beansprucht. Hinzu kommt als konstitutives Merkmal eines jeden Genres der Literatur im engeren Sinn die Fiktionalität oder die Fiktionalisierung einer Handlung, in deren Zentrum Verbrechen stehen und Figuren agieren, die (zumindest gilt dies für die Hauptfiguren) individualisiert und psychologisiert werden.

      Wie alle Genres verändert sich auch dieses durch die Zeit, nicht zuletzt, wenn um 1900 der Zweifel am Weltbild der Aufklärung immer größer wird. Bereits in der frühesten Phase des Films findet ein Medienwechsel statt und der Krimi gehört sehr schnell auch im neu entstehenden Leitmedium zu den populärsten Genres.

      3.2 Vom Buch zum Film

      Die geschichtliche Entwicklung des Kriminalfilms (vgl. bereits Neuhaus 2018) ist nicht losgelöst zu betrachten von der des Films allgemein, eingebettet in die jeweiligen sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Kontexte. Der Film entsteht technisch aus der Fotografie und anderen optischen Medien (etwa der Laterna magica), er wird beeinflusst von der Literatur, dem Theater und den anderen Künsten. 1895 führten die Brüder LumièreBrüder Lumière mit ihrem ‚Cinématographe‘ in Paris oder auch die Brüder SkladanowskyBrüder Skladanowsky in Berlin kurze Filme vor. Bis 1912 entwickelte sich das junge Medium des Kinofilms zu einem eigenen Wirtschaftszweig, die Jahre 1913-27 gelten als Stummfilmzeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam das Fernsehen als Ergänzung und Konkurrenz hinzu (Monaco 2005, 232). Die ersten Vorführungen hatten eher dokumentarischen Charakter, im Laufe der Zeit stieg der Anteil an fiktionalen Filmen aber stetig an und dominierte schließlich das Kino (Paech 1997, 25).

      Der Spielfilm spannt einen großen Bogen und wird daher mit dem Roman verglichen, viele Spielfilme sind außerdem Verfilmungen literarischer Texte. Dazu kommen zahlreiche weitere Berührungspunkte (Erzähltechniken, Symbole…), so dass sich die „Literaturgeschichte als Vorgeschichte des Films“ verstehen lässt (Paech 1997, 45). Zugleich gibt es signifikante Unterschiede. Filme sind einerseits komplex, indem sie verschiedene Codes kombinieren (Bild, Ton, Musik, gesprochene Sprache, Kameraperspektive, Schnitt, Mimik, Gestik…) und hohe personelle wie finanzielle Anforderungen stellen; andererseits ist das Sehen etwas frühkindlich und unbewusst Gelerntes und nicht vergleichbar mit der später erst mit einem gewissen Aufwand zu erlernenden Kulturtechnik des Lesens. Die „Lust am Schauen“ (Mulvey 2001, 391) wirft weitere Fragen auf, etwa nach der Verfestigung von Stereotypen durch Visualisierung wie bei den Vorstellungen von ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘. Gelungene künstlerische Filme bedienen aber nicht Klischees oder Stereotype, sondern zeichnen sich durch eine komplexe, ästhetische und innovative (Bild-)Sprache aus (Neuhaus 2008a).

      Der Kriminalfilm stellt, wenn es um Merkmale des Genres geht, die Forschung vor die gleichen Fragen wie die Kriminalliteratur, die überwiegend aus Kriminalromanen besteht. Vergleichbar zum Kriminalroman in der Literatur gehört auch der fiktionale Kriminalspielfilm, historisch und gegenwärtig, zu den populärsten Filmgenres, er gilt manchen als das quantitativ bedeutsamste (Hickethier 2005, 11). Durch die neuen Serien-Formate dürfte sich dies relativiert haben. Dabei wird der weitaus größte Teil der Krimi-Produktionen in Literatur und Film zur Unterhaltungsware gezählt (Seeßlen 1998, 32). Der Grund ist, dass das in der Regel wichtigste Kriterium die Erzeugung von Handlungsspannung ist; ein Kriterium, das neben dem Fokus auf Unterhaltung im Kontext literarischer Wertung als wichtiges Verdachtsmoment für Trivialität gilt, ebenso wie das durch den Gegensatz von Täter und Opfer provozierte Gut-Böse-Schema. Dass Kriminalfilme als Unterhaltungsfilme rubriziert werden, wiegt historisch betrachtet deshalb so schwer, weil spätestens seit dem Nationalsozialismus deutlich geworden ist, dass der „herrschende Massenbedürfnisse“ (Kracauer 1984, 11) befriedigende, auf Unterhaltung zielende Kinofilm an der Stabilisierung der (autoritären) gesellschaftlichen Ordnung mitwirkt, indem er auf scheinbar ‚natürliche‘ Muster zurückgreift (z.B. der als hässlich und auch sonst als ‚anders‘ markierte Täter) und so einen den etablierten Diskurs verstärkenden Charakter hat. Doch auch Gegendiskurse können sich verfestigen und zu Klischees erstarren (z.B. der korrupte Polizist oder der unschuldig Verfolgte).

      Wie in der Kriminalliteratur geht es im Kriminalfilm um die Missachtung gesellschaftlicher Normen und die daraus resultierenden Konsequenzen, üblicherweise nach dem Schema Normverletzung und Wiederherstellung der Ordnung (Hickethier 2005, 11). Allerdings sind es gerade die kanonisierten Texte und Filme der Gattung und des Genres, die keine „Bedrohung durch das schlechthin Fremde“ (Linder / Ort 1999, 4) inszenieren, sondern eine Lösung vermissen lassen, so dass die Normverletzung, der sie auslösende Konflikt oder die Problematik der Norm selbst fortdauern. Es gehört zu den Besonderheiten bereits kanonisierter oder neuerer und avancierter Kriminalfilme, komplexer strukturiert zu sein und gegen gängige Muster zu verstoßen, durch formale Experimente und durch das Unterlaufen klarer Schuldzuweisungen. Der Mechanismus von Spannung und Entspannung, der Befriedigung der „Faszination des Schrecklichen“ und der ‚bösen Lust‘ (Anz 1998, 115 u. 125) wird gebrochen, etwa durch Ironie, Parodie bzw. die Verwendung selbstreflexiver, auch metafiktionaler Elemente.

      Dennoch bleibt als Grundlage die Erzeugung von Nervenkitzel (engl. ‚thrill‘), mit Michael BalintBalint, Michael verstanden als „Angstlust“, als „eine Art ‚Katastrophentraining‘“ und als „lustvolles Spiel mit dem Tod“. Angst wird in mehrfacher Weise produktiv. Sie ermöglicht es, sich den Figuren, die leiden und sterben müssen, überlegen zu fühlen. Es können über die Identifikation mit dem Täter Aggressionen abgebaut und gleichzeitig durch die Bestrafung des Täters und den Erfolg