Der Krimi in Literatur, Film und Serie. Stefan Neuhaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Neuhaus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846355565
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VajdaVajda, Ladislao), ein aufklärender Auftragsfilm, der Kindesmissbrauch und Kindstötung auf die Agenda der Nachkriegsgesellschaft setzte. Im internationalen Spielfilm wird die Tradition fortgesetzt und radikalisiert, die psychischen Abgründe von Figuren zu visualisieren. Der gebürtige Engländer Alfred HitchcockHitchcock, Alfred, stark beeinflusst vom deutschen Vorkriegsfilm und der Psychoanalyse, experimentiert erfolgreich mit der Inszenierung menschlicher Abgründe, besonders eindrucksvoll in PsychoPsycho (1960): Der junge Motel-Betreiber Norman Bates erleidet, nachdem er seine Mutter umgebracht hat, auf die er ödipal fixiert war, eine Persönlichkeitsspaltung und tötet fortan, als seine Mutter verkleidet, junge Frauen, die auf der Durchreise sind. Im selben Jahr kommt Peeping TomPeeping Tom von Michael PowellPowell, Michael in die Kinos und wird zum Skandal. Der deutsch-österreichische Star Karlheinz BöhmBöhm, Karlheinz (berühmt wegen seiner Rolle als österreichischer Kaiser in den Filmen Sissi von 1955, Sissi – Die junge Kaiserin von 1956 und Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin von 1957, Regie führte stets Ernst MarischkaMarischka, Ernst) spielt den ebenso schüchtern wie sympathisch auftretenden Mark, der junge Frauen mit dem angespitzten Stativ seiner Kamera tötet und dabei filmt. Die Perspektiven beider Kameras verschmelzen, die Zuschauer*innen sehen durch das ‚Auge‘ von Marks Handkamera und werden wenn nicht selbst zu Täter*innen, auf jeden Fall aber zu Voyeur*innen (hierfür ist ‚peeping Tom‘ der englischsprachige Ausdruck). Mark wiederholt und variiert ein Trauma, als Kind ist er von seinem Vater gequält und dabei gefilmt worden. Zu solchen psychologischen Ein-Sichten war das damalige Kinopublikum aber noch nicht bereit. Die Karriere Karlheinz Böhms wie der anderen am Film Beteiligten litt unter dem Skandal, der Film wurde erst sehr viel später von der Filmkritik und der Forschung zum Meisterwerk erklärt.

      Bereits in den 1930er Jahren entstanden Serien, die nicht nur ungeheuer populär wurden, sondern auch sehr einflussreich waren, wenn es um die Weiterentwicklung des Genres geht. Zu den Vorläufern von James BondJames Bond gehören Charlie Chan und Mr. Moto. Charlie Chan basiert auf einer Romanserie von Earl Derr BiggersBiggers, Earl Derr, allerdings gingen – wie später bei James Bond – den Produzenten bald die Romane aus. 1926 entstand ein erster Film „als Serial in zehn Kapiteln“ (Seeßlen 2011, 77), von 1931-42 spielten in 27 Filmen zunächst Warner OlandOland, Warner und ab 1938 Sidney TolerToler, Sidney die Hauptrolle des chinesischen Detektivs, der auf Hawaii lebt. Weitere Darsteller folgten im Laufe der Jahre und Jahrzehnte, unter ihnen 1980 in Charlie Chan and the Curse of the Dragon QueenCharlie Chan and the Curse of the Dragon Queen auch Peter UstinovUstinov, Peter. Chan ist Familienvater und einzelne seiner Söhne ermitteln immer wieder mit ihm zusammen. Die Filme changieren von Verbrechen zu Spionage, im Laufe der Jahre erstrecken sich die Schauplätze über die ganze Welt und der Humor spielt eine immer wichtigere Rolle. „Charlie Chans Gegner hatten indes die Tendenz, immer allmächtiger, grotesker und geheimnisvoller zu werden“ (Seeßlen 2011, 84) – noch eine Parallele zu den späteren Bond-Filmen. In Gastrollen waren prominente Schauspieler*innen wie Rita HayworthHayworth, Rita oder Boris KarloffKarloff, Boris zu sehen (Seeßlen 2011, 81). Auch die Figur Mr. Moto stammt aus Romanen, ihr Autor hieß John Phillips MarquandMarquand, John Phillips. Bekannter ist der Hauptdarsteller: „Peter LorreLorre, Peter spielte nicht Mr. Moto, er lieh ihm seine Persönlichkeit“ (Seeßlen 2011, 86). Von 1937-39 kamen acht Filme in die Kinos.

      Insbesondere die US-amerikanische Filmindustrie produzierte nach dem Zweiten Weltkrieg eine solche – und immer größer werdende – Vielzahl von Detektivserien, dass es aussichtslos wäre, auch nur die wichtigsten hier aufzulisten. Einige besonders bekannte und beliebte Serien sollen kurz (teils noch einmal) Erwähnung finden, und zwar als Beispiele für die sehr unterschiedlichen Typen von Ermittlern. In The Streets of San FranciscoThe Streets of San Francisco sind es von 1972-77 zwei Polizisten, neben Karl Malden debütierte der zum Star avancierende Michael DouglasDouglas, Michael (Sohn von Starschauspieler Kirk DouglasDouglas, Kirk). Die Lebens-Rolle von Peter FalkFalk, Peter war von 1968-2003 ColumboColumbo, ein schrulliger, zerstreut und ungepflegt wirkender Inspektor mit Trenchcoat. In The Rockford FilesThe Rockford Files stellte von 1974-80 James GarnerGarner, James einen Privatdetektiv dar, der in einem Campinganhänger lebt und sich durch die vielen kleinen Misserfolge nicht von seinem Weg und seiner prinzipiellen guten Laune abbringen lässt. Komik und Humor spielten auch eine wichtige Rolle in Magnum, p.iMagnum, p.i. von 1980-88 mit Tom SelleckSelleck, Tom, den Steven SpielbergSpielberg, Steven gern für seinen (ersten) Indiana Jones-Film Raiders of the Lost ArkRaiders of the Lost Ark von 1981 verpflichtet hätte. Weil Selleck seinen Vertrag erfüllen und weiter Magnum spielen musste, bekam Harrison FordFord, Harrison die Rolle des Spielfilm-Helden – eines Archäologieprofessors, der in der Nazizeit einzigartige verschollene Kunstgegenstände sucht und dabei Verbrechen aufklärt. Auch Gerichtsmediziner sind immer wieder als Ermittlerfiguren in Serien zu sehen, beispielsweise Jack KlugmanKlugman, Jack in Quincy, M. E.Quincy, M. E. von 1976-83.

      Auch im deutschsprachigen Raum gab und gibt es zahlreiche Detektiv- und Krimiserien unterschiedlichster Formate. Hier nur eine kleine Blütenlese: StahlnetzStahlnetz hieß eine von 1958-68 ausgestrahlte Reihe im NDR mit 22 Folgen mit Motiven aus wahren Begebenheiten. 1969-76 lief in 97 Folgen Der KommissarDer Kommissar mit Erik OdeOde, Erik in der Titelrolle, geschrieben von dem ungekrönten Krimidrehbuch-Serienkönig Herbert ReineckerReinecker, Herbert. Er schrieb außerdem alle Drehbücher für die international sehr erfolgreiche Serie DerrickDerrick mit Horst TappertTappert, Horst in der Titelrolle, gesendet von 1974-98 in 281 Episoden. Die TatortTatort-Reihe startete 1970 und läuft bis heute, mit je nach Sendeanstalt der ARD, des ORF und des SF unterschiedlichen Ermittlerteams.

      In Zeiten von Netflix und Amazon prime hat sich die Zahl der Serienproduktionen vervielfacht. Auch künstlerisch ist versucht worden, neue Maßstäbe zu setzen, etwa mit True DetectiveTrue Detective oder mit FargoFargo, die ersten Staffeln beider Serien erschienen 2014. Schon im Titel zitiert Fargo von Noah HawleyHawley, Noah den gleichnamigen Film der Starregisseure Ethan und Joel CoenCoen, Ethan und Joel von 1996. Die berühmten Coen-Brüder sind die Produzenten der Serie. In beiden Serien, die in jeder Staffel jeweils eine neue Geschichte erzählen, handelt es sich bei den Ermittlern um Polizisten.

      Dazu kommen sehr erfolgreiche Mini-Serien, etwa die Verfilmungen der Kriminalromane mit der vom schwedischen Schriftsteller Henning MankellMankell, Henning erschaffenen Figur Kurt Wallander. Wallander ermittelt als Kriminalkommissar im schwedischen Ystad, die Romanserie wurde 1994-2007 vom schwedischen Fernsehen und von 2008-15 von der BBC verfilmt, für die zwölf Folgen der britischen Produktion zeichnete Kenneth BranaghBranagh, Kenneth verantwortlich, der auch die Hauptrolle spielte. Der von seiner Frau verlassene Wallander ist der Typus des einsamen Wolfs, des trotz persönlicher und gesundheitlicher Probleme aufrechten Kämpfers gegen das Verbrechen in einer unüberschaubar gewordenen Welt. Halt gibt dem auf seine Arbeit fixierten Kommissar die Beziehung zu seiner Tochter, allerdings nur in begrenztem Umfang, da diese immer wieder auch Partei für die Mutter ergreift.

      Die deutschsprachigen Produktionen sind vor allem Kriminalfilme, die sich an das traditionelle Muster des Whodunit halten. Ein legendäres Beispiel ist die Verfilmung des Francis-DurbridgeDurbridge, Francis-Krimis Das HalstuchDas Halstuch in sechs Teilen, vom WDR produziert und 1962 in der ARD gezeigt. Hans QuestQuest, Hans führte Regie, Heinz DracheDrache, Heinz spielte den Ermittler, Dieter BorscheBorsche, Dieter den Mörder. Auch Horst TappertTappert, Horst, der bereits erwähnte Derrick-Darsteller, ist dabei. Die Verfilmung setzt erfolgreich auf größtmögliche Handlungsspannung, so dass die Miniserie als legendärer ‚Straßenfeger‘ mit einer der höchsten Einschaltquoten aller Zeiten gilt. Die Grenzen zwischen Kinofilm und TV-Krimi sind nicht immer leicht zu ziehen: Die TV-Produktionen entwickeln sich aus der Spielfilm-Tradition, die Kinofilme werden nach einiger Zeit auch im TV (wiederholt) gesendet und zu manchen TV-Produktionen gibt es Kinofilme. Ein Beispiel sind die im Kino gesendeten Filme Zahn um ZahnZahn um Zahn (1985) und ZabouZabou (1987) mit dem Tatort-Kommissar Horst Schimanski (gespielt von Götz GeorgeGeorge, Götz; Regie führte Hajo GiesGies, Hajo).

      Aus der unüberschaubaren Zahl von Kriminalfilmen für Kino oder Fernsehen Beispiele auszuwählen ist ebenso müßig wie notwendig, will man Genretraditionen aufzeigen und das Spektrum ausloten. Zu den herausragenden, das Genre erweiternden Produktionen gehört