Der Krimi in Literatur, Film und Serie. Stefan Neuhaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Neuhaus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846355565
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(Fontane 1969, 229), ist die andere Seite des so klugen und rationalen Verhaltens, mit dem er glaubt, aus dem Mord ökonomisches wie symbolisches Kapital schlagen zu können. Der „beständig zwischen Aber- und Unglauben hin und her schwankende Hradschek“ (Fontane 1969, 228) hat in diesem unguten Verhalten Vorläufer bei Schiller (Fontane kannte ‚seinen‘ Schiller gut), und zwar in Franz Moor (in den Räubern) und in der Figur des Wallenstein.

      Auch Hradscheks Frau handelt äußerst gewissenlos; weshalb sie „die einzige reflektierte Gestalt im Werk“ sein soll (Sagarra 2000, 563), erschließt sich daher nicht. Aus Angst vor Armut spielt sie ihre „Rolle“ (Fontane 1969, 242) als den Gasthof in aller Frühe verlassender Szulski (Fontane 1969, 252f.), der dann schon erschlagen und begraben im Keller liegt. Ursel Hradschek geht sogar so weit, dem Pastor zu schreiben, dass sie ihren Mann nicht im Gefängnis besuchen wolle: „Wenn er schuldig sei, so sei sie für immer von ihm geschieden“ (Fontane 1969, 264). Die angeblich gläubige Frau belügt ihren Pastor und ihren Gott, ebenso wie ihr Mann sie betrügt, wenn er ihrem letzten Willen, für sie Messen lesen zu lassen, durch eine Intrige nicht nachkommt und von ebendem Geld (vgl. Fontane 1969, 293f.), ohne diesen Umstand gegenüber der Dorföffentlichkeit zu erwähnen, mehr sich selbst als seiner toten Frau ein veritables Grabdenkmal setzen will: „Die ganze Rede hatte Hradschek mit bewegter und die Dankbarkeitsstelle sogar mit zitternder Stimme gesprochen, was eine große Wirkung auf die Bauern gemacht hatte“ (Fontane 1969, 278).

      Ursel Hradschek wird von ihrem perfekt schauspielernden Mann manipuliert, der sein Mitgefühl, wie alles andere, nur vorspielt (vgl. dagegen Bohrmann 2001, 17f.). Er weiß, dass es für sie das Schlimmste wäre, wieder arm zu sein (Fontane 1969, 231). Dafür macht er ihr ein schlechtes Gewissen, auch wenn ihr Anteil an der prekären finanziellen Situation gering sein dürfte. Ihr ganzer Stolz, ihre ‚feinen‘ Möbel, wurden aus einer Konkursmasse erworben und sie wusste nichts davon, dass sie „von geborgtem Gelde“ gekauft werden mussten – falls es überhaupt stimmt und Hradschek es nicht nur so darstellt (Fontane 1969, 234). Auch könnte es sein, dass Hradschenks Vergangenheit, seine frühere Liebschaft, Anteil an der schwierigen finanziellen Ausgangssituation gehabt hat (vgl. ebd.). Immerhin warnt sie ihren Mann: „Es ist nichts so fein gesponnen…“ (Fontane 1969, 236). Dieser Satz wird am Ende der Erzählung von Pastor Eccelius bei seinem Eintrag ins Kirchenbuch wiederholt (Fontane 1969, 313). Allerdings hat sich gerade der treuherzige, auf seine Glaubessätze fixierte Pastor gegen alle Verdachtsgründe bis zuletzt überzeugt von der Unschuld des Ehepaars gezeigt. Auch gegenüber dem leitenden Ermittler, seinem „Duz- und Logenbruder“ (Fontane 1969, 257f.) Justizrat Vowinkel, macht Ecclesius seinen Einfluss geltend, um die Unschuld des Ehepaars nachzuweisen. Dabei ist es, wie sich später herausstellt, ein Teil von Abel Hradscheks Plan, erst verhaftet und dann von dem Verdacht reingewaschen zu werden.

      Das Ehepaar Hradschek ist keine Ausnahme, wenn es um negative Charaktereigenschaften geht. Alle anderen Figuren, soweit sie näher charakterisiert werden, scheinen es mit den gesellschaftlichen Regeln nicht so ernst zu nehmen. Über die Frau des reichen Bauern Quaas beispielsweise erfahren wir, dass sie „aus dem Umstande, daß sie zwanzig Jahre jünger war als ihr Mann, ihr Recht zu fast ebenso vielen Liebschaften herleitete“ (Fontane 1969, 239). Der leichtgläubige Pastor (vgl. Fontane 1969, 291), der selbstgerechte „Kriminalist“ (Fontane 1969, 263) Justizrat Vowinkel, die Trinkrunde um Hradschek mit dem Dorfschulzen und den reichen Bauern, die „ihre blonde Nichte, die Line“ (Fontane 1969, 265) sowohl dem Dorfgendarmen Geelhaar als auch dem Witwer Hradschek anbietende Witwe Jeschke, der eingebildete Alkoholiker Geelhaar mit seinem „gedunsenen Kopf“ (Fontane 1969, 268) – sie alle kommen nicht gut weg, wenn es um die seit der Aufklärung propagierten bürgerlichen Werte wie Tugend und Anstand geht. Der höchste Wert der Gemeinschaft ist, wie sollte es anders sein, das Geld: „Denn Geld ausgeben (und noch dazu viel Geld) war das, was den Tschechinern als echten Bauern am meisten imponierte“ (Fontane 1969, 295).

      Auch das Opfer, der offenbar selbst recht wohlhabende Reisende Szulski, erscheint nicht als sonderlich sympathischer Zeitgenosse. Zu den Finten der Erzählung gehört, ihn als Polen vorzustellen, der „eigentlich ein einfacher Schulz aus Beuthen in Oberschlesien war und den Nationalpolen erst mit dem polnischen Samtrock samt Schnüren und Knebelknöpfen angezogen hatte“ (Fontane 1969, 243). Auch bei diesem „Pseudopolen“ (ebd.) ist offenbar – wie bei allen Hauptfiguren der Erzählung – zwischen Sein und Schein kaum zu unterscheiden. Darin ähnelt er Hradschek, der einen böhmischen Namen trägt und doch aus dem benachbarten Neu-Lewin kommt (Fontane 1969, 258). Wenn Szulski von einer ‚schönen Frau‘ erzählt, die mit ihren beiden Kindern auf der Flucht vor den Russen in die Weichsel sprang, dann kommentiert er dies mit den zweideutigen Worten, er hätte „ihr was Bessres gewünscht“ (Fontane 1969, 245). Die Bemerkung wird jedenfalls als Zweideutigkeit verstanden, wie das Schmunzeln Kunikes und die Erregung des „an einer Liebesader leidende[n] Mietzel“ zeigen (Fontane 1969, 246).

      Eine noch deutlichere Zweideutigkeit ist die dem gerade zum Witwer gewordenen Hradschek erzählte Geschichte „von einem alten Hauptmann von Rohr, der vier Frauen gehabt“ habe (Fontane 1969, 292). Das Phallische des Namens ist nicht zu übersehen, ebenso wie der Phallus die zentrale Rolle in folgender Episode spielt: „Diese Romanze behandelte die berühmte Geschichte vom Eckensteher, der einen armen Apothekerlehrling, ‚weil das Räucherkerzchen partout nicht stehen wolle‘, Schlag Mitternacht aus dem Schlaf klingelte, welche Geschichte damals nicht bloß die ganze vornehme Welt, sondern auch […]“ Hradschek begeistert (Fontane 1969, 299), was ebenso viel über Hradschek wie über die ganze vornehme Welt aussagt.

      Die erzählerische Ironie ist allgegenwärtig. Als Szulski stirbt, gibt es natürlich „Sturm“ (Fontane 1969, 250), der, wie die Hausangestellte Male sagt, „‘nen Doden uppwecken“ könnte (Fontane 1969, 251). Weil er nicht rechtzeitig aufsteht, attestiert der Hausangestellte Jakob dem Reisenden „‘nen Dodensloap“ (Fontane 1969, 252). Ironisch sind die Namen, die Figurencharakterisierungen und die Symbolik. Ein Beispiel ist die folgende Stelle über die Witwe Jeschke: „Zugleich warf sie reichlich Kienäpfel auf, an denen sie nie Mangel litt, seit sie letzten Herbst dem vierjährigen Jungen vom Förster Notnagel, drüben in der neumärkischen Heide, das freiwillige Hinken wegkuriert hatte“ (Fontane 1969, 249). Jeschke ist also keine echte „Hexe“, sondern eine Scharlatanin, doch auch ihre ‚Patienten‘, die entweder freiwillig hinken oder Notnagel heißen, werden ironisiert oder komisiert.

      Nicht weniger eindrucksvoll als die Bezeichnung Förster Notnagel ist „Totengräber Wonnekamp“ (Fontane 1969, 271). Das möglicherweise uneheliche Kind des Mörderpaars trägt den Namen Hermann Hradschek und wird „Lütt-Hermann“ genannt (Fontane 1969, 281). Zu der symbolisch-historischen Bedeutung des Namens Hermann (Hermann der Cherusker alias ArminiusArminius) und der hier offensichtlichen Ironisierung musste den aufmerksamen zeitgenössischen Leser*innen wohl nichts gesagt werden.

      Der Vers des Spottliedes „Abel schlug den Kain tot“ (Fontane 1969, 257) trifft den Nagel auf seinen ironischen Kopf – die Bibelanspielung ist deutlich, die Verhältnisse werden aber umgekehrt, wie dies für Ironie eben typisch ist. Die Bibel-Erzählung von den feindlichen Brüdern Kain und Abel ist für Richard Alewyn der „älteste[n] und berühmteste[n] Kriminalfall unserer Überlieferung“ (Alewyn 1998, 53) und man kann davon ausgehen, dass Fontanes Erzählung nicht zufällig gerade darauf anspielt. Zumindest der Umgang mit dem Glauben, vielleicht auch der Glaube selbst gerät so in den Treibsand des fontaneschen Skeptizismus.

      Der Schluss desavouiert alle mit der Frage: „Warum hatte man sich hinters Licht führen lassen?“ (Fontane 1969, 311). Die Honoratioren sind „peinlich“ berührt durch ihr eigenes Versagen (ebd.), aber sie sind schlau genug, nicht darüber zu reden und gleich alles möglichst pragmatisch zu regeln. Weil nichts bewiesen ist, darf der Leichnam des Wirtes am Rand des Friedhofs verscharrt werden und dass die Dorfbewohner, wenn sie von der Leiche im Keller erfahren, das Grab der Frau schänden und das Denkmal „umreißen“ werden, ist in Kauf zu nehmen. Die beiden höchsten Vertreter der weltlichen und der geistlichen Ordnung am Ort, Schulze und Pastor, sind sich einig: „der Mensch verlangt auch seine Ordnung“ (Fontane 1969, 312). Geelhaar resümiert: „Was war es denn auch groß? Ein Fall mehr. Darüber ging die Welt noch lange nicht aus den Fugen“ (ebd.).