Allerdings ist zu fragen, inwieweit sich auch solche Umkehrungen der Maßstäbe der Bewertung (böse Ordnung – gutes, außerhalb der Ordnung stehendes Individuum) alter Zuschreibungsmuster bedienen. Noch innovativer sind Filme, die distanzerzeugende Mittel wie Metafiktionalität verwenden, um die Zuschreibungspraxis, die der Film selbst durch seine eigene Ordnung etabliert, ebenfalls zur Disposition zu stellen oder zumindest durchsichtig zu machen. Ein radikales Beispiel ist Orson WellesWelles, Orson’ Verfilmung von Franz KafkaKafka, Franzs Roman Der ProzeßDer Prozeß. Der Roman erschien postum 1925, die Verfilmung stammt von 1962. Wie viele der bereits genannten Beispiele handelt es sich um einen sogenannten Autorenfilm – Orson Welles hatte die Idee, schrieb das Drehbuch und führte Regie, außerdem spielte er eine der zentralen Figuren und wirkte am Schnitt mit. Anthony PerkinsPerkins, Anthony als Josef K. war den Kinozuschauern noch als Serienmörder aus PsychoPsycho in Erinnerung. Zweifellos handelt es sich um einen Kriminalfilm, es gibt einen Täter und eine Strafe – Josef K. wird am Schluss des Films von Vertretern der Ordnung erstochen. Allerdings bleibt in Roman und Film alles Wissen verborgen, das für einen logischen Kriminalfall unverzichtbar wäre: Welche Tat soll K. überhaupt begonnen haben? Wie ist das Gericht legitimiert? Im Verlauf der Handlung entstehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dessen, was die Vertreter der Ordnung tun. Es werden nicht nur die üblichen Gut-Böse-Schemata aufgelöst, es ist nicht einmal mehr deutlich, wer nach den innerfiktional anzulegenden Maßstäben auf welcher Seite steht.
Auch deutschsprachige Produktionen durchkreuzen die in primär der Unterhaltung verpflichteten Filmen gängigen Muster, etwa Der TotmacherDer Totmacher (1995) von Regisseur Romuald KarmakarKarmakar, Romuald mit Götz GeorgeGeorge, Götz in der Rolle des Serienmörders Fritz HaarmannHaarmann, Fritz, der 1924 wegen des brutalen Mordes an mindestens 24 Jungen und Männern verhaftet, verhört und hingerichtet wurde. Die Verhörprotokolle dienen als Grundlage für das klaustrophobische Kammerspiel und George zeichnet das Bild eines zutiefst verstörten, sich nach Liebe sehnenden Mannes, der sich aber nur durch Gewalt artikulieren kann. Das Monster ist dennoch ein Mensch.
Legislative und Exekutive stellen den Ordnungsrahmen bereit, doch sind die heutigen ausdifferenzierten, hochkomplexen Gesellschaften vor allem auf Selbstdisziplinierung angewiesen. Diese Selbstdisziplinierung kann entweder durch unkritische Internalisierung von Regeln erfolgen oder darauf zielen, die eigene Reflexion über sinnvolle Techniken zu aktivieren, wie sich gerade auch durch eigenes Verhalten soziales Miteinander gewährleisten lässt. Triviale Kriminalfilme zielen auf die Internalisierung von Regeln, wobei dies auch durch Kritik an etablierten Ordnungsmächten geschehen kann, etwa wenn sie korrupt sind und die ihnen zugewiesene Aufgabe nicht mehr erfüllen. Durch Verwendung solcher Muster im Kriminalfilm wird nicht die Frage nach der Legitimität von Autorität gestellt, sondern die Restitution einer prinzipiell als sinnvoll erachteten, ‚naturalisierten‘ Autorität propagiert. Die hier diskutierten Beispiele des Kriminalfilms weichen von diesem Programm des Unterhaltungsfilms ab, denn sie werfen entweder einen kritischen Blick nicht nur auf die Vertreter*innen der staatlichen Autorität, sondern auf bestehende Ordnungsstrukturen. ‚Gut‘ und ‚Böse‘ werden, bezogen auf die Rollen wie auf das Verhalten der Figuren, als Zuschreibungen entlarvt, die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschwimmen und die Kontingenzerfahrungen der (post-)modernen Gesellschaft lassen kein logisch-teleologisches Konzept von Aufklärung, hier verstanden als Aufklärung von Verbrechen, mehr zu. Das heißt nicht, dass ethisches Handeln unmöglich geworden wäre. Es ist nur schwieriger geworden, denn es muss situativ und (selbst-)verantwortlich abgesichert werden und es muss nicht mehr zur Folge haben, dass dadurch die gezeigte Welt ein Stück besser geworden ist.
Kriminalfilm ist also nicht gleich Kriminalfilm, und dies betrifft weniger die viel diskutierte, schwer festzulegende Zugehörigkeit zu den diversen Subgenres (Detektivfilm, Thriller u.a.) als vielmehr die aus der filmischen Inszenierung resultierende Haltung zur „Ordnung des Diskurses“ (FoucaultFoucault, Michel 2000) einer Gesellschaft. Der Kriminalfilm ist auch deshalb eines der spannendsten Genres, nur auf andere Weise, als dies gängige Rezeptionsmodi vermuten lassen.
Fragen zu diesem Kapitel:
Was ist und welche Rolle für die Entwicklung des Genres spielt ‚der Pitaval‘?
Mit welchem Text gerät die Motivation des Verbrechens in den Blick der Kriminalerzählung?
Wann beginnt die Entwicklung des Kriminalfilms?
Welche Rolle spielen Normverletzungen?
Welche Bedeutung hat der Nervenkitzel?
Wie machen Kriminalerzählungen in Literatur und Film Kategorien wie ‚Gut‘ und ‚Böse‘ als Zuschreibungen kenntlich?
Welche Überschneidungen gibt es zwischen Kriminal-, Detektiv- und Spionagefilmen (oder -serien)?
Welche die Grenzen des Genres erweiternden Filme wären beispielsweise zu nennen?
Inwiefern wird die Grenze von Kriminalfilm, Kriminalkomödie und Gesellschaftssatire fließend?
Wie werden Ordnungsstrukturen und Kontingenzerfahrungen miteinander vermittelt?
4. Kriminalerzählungen
4.1 Ein Sammelbegriff
Erzählt wird (fast) immer und überall, der Begriff der Erzählung kann daher zugleich allgemein und spezifischer als Gattungsbegriff der Literatur verstanden werden. Zur Gattung der Erzählung werden in der Literatur alle Erzähltexte gerechnet, die nicht als Roman bezeichnet werden, die in der Regel kürzer als ein Roman sind, aber länger und offener als andere Gattungen wie Novelle, Kurzgeschichte, Märchen, Legende u.a. Eine Erzählung wird bestenfalls dadurch definiert, dass sie keine besonderen Merkmale hat. Die Verwendung von Gattungsbegriffen kann insbesondere bei der Erzählung differieren. Die Begriffe Erzählung und Novelle werden nicht selten synonym verwendet. Bei Novellenzyklen spricht man von Rahmenerzählungen, in die Novellen eingebettet sind. Theodor FontaneFontane, Theodor beispielsweise zog den offeneren Begriff dem der Novelle vor, während sich die Forschung gern, wenn es um Fontanes ‚Erzählungen‘ geht, des Begriffs der Novelle bedient.
Kriminalerzählung