Der Krimi in Literatur, Film und Serie. Stefan Neuhaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Neuhaus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846355565
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modifizierte Rhetorik und Stilistik wie für intertextuelle Spuren (zur Zeichenhaftigkeit und zum Begriff der Spur vgl. Kessler 2012). Auch Krimis verwenden Zitate oder Stoffe und Motive, die auf frühere Texte verweisen und so – wenn man solche Signale zu erkennen weiß – einen spezifisch literarischen Diskurs eröffnen, indem sie sich in Traditionen einschreiben, sie kritisch fortschreiben und modifizieren.

      Gängige Krimis sind einfach konstruiert, sie arbeiten mit Klischees und Stereotypen, um ihre Leser*innen zu unterhalten und auf diese Weise am Markt erfolgreich zu sein. Daran ist nichts Verwerfliches: „Wer lieber King als Kafka liest, die amerikanische Gegenwartsliteratur der deutschen vorzieht oder den Krimi im Fernsehen dem im Buch, der soll sich davon nicht abhalten lassen“ (Anz 1998, 8). Dennoch gehört Unterhaltungsware gerade deshalb eben nicht zum Literatur- und Kunstbetrieb, auch wenn dieser die Aufgabe hat, keine pauschalen Ausgrenzungen vorzunehmen – sofern er sich nicht selbst auf die Stabilisierung von Machtbeziehungen und dadurch erlangte Distinktionsgewinne beschränken will.

      Krimis verfallen oft dem Verdikt der Trivialität, weil Spannung zum Genrekern gehört. Doch ist Spannung etwas, das viele Gesichter haben und – auch beim Krimi – nicht unbedingt oder nur als Handlungs- oder Rätselspannung auf die Handlung bezogen sein muss. Allgemein formuliert: „Spannung beruht [ ] auf partiellem Mangel an Information und auf dem Wunsch, ihn aufzuheben“ (Anz 1998, 163). Darüber hinaus stimuliert Literatur „die Erfahrung eines Mangels“ und schafft so ein „Begehren [ ], den Mangel zu beseitigen“ (Anz 1998, 168). ‚Gute‘ Literatur und Filme zeichnet es aber aus, die Spannung auch über das (un-)glückliche Ende hinaus aufrecht zu erhalten, damit die Leser*innen über das Gelesene oder Gesehene weiter nachdenken. Um es mit dem Ende von Bertolt BrechtBrecht, Bertolts Der gute Mensch von SezuanDer gute Mensch von Sezuan von 1943 zu sagen:

      Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen

      Den Vorhang zu und alle Fragen offen. […]

      Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt?

      Vielleicht nur andere Götter? Oder keine? […]

      Sie selber dächten auf der Stelle nach

      Auf welche Weis dem guten Menschen man

      Zu einem guten Ende helfen kann.

      Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!

      Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß! (Brecht 1997, 2, 294f.)

      Für die Frage der Einordnung entscheidend ist, ob man an dem potenziellen Kunstwerk den Versuch erkennen kann, etwas Neues anzubieten: „Auch mißglückte Kunstwerke sind Kunstwerke – nur eben mißglückte“ (Luhmann 1997, 316). Davon ist die „Massenproduktion“ bzw. der „Kitsch“ zu unterscheiden (Luhmann 1997, 300). Schließlich gibt es, um Kunst, die von der Neuheit lebt, überhaupt als solche zu erkennen, „[…] einen Kunstbetrieb. Das Kunstsystem stellt Einrichtungen zur Verfügung, in denen es nicht unwahrscheinlich ist, Kunst anzutreffen – etwa Museen, Galerien, Ausstellungen, Literaturbeilagen von Zeitungen, Theatergebäude, soziale Kontakte mit Kunstexperten, Kritikern usw.“ (Luhmann 1997, 249).

      Was gar nicht besprochen wurde und keinen Beifall von Akteur*innen im Literatur- und Kunstbetrieb erhält, zählt daher möglicherweise – es gilt immer das Prinzip einer ständigen Revision des literarischen Kanons (Neuhaus 2002) – zur Trivial- oder Unterhaltungsliteratur. In jedem Fall gilt, dass es bei der Beschäftigung mit Literatur jenseits der reinen Unterhaltungsfunktion immer darum gehen sollte, „ästhetisches Vergnügen durch Reflexion darüber zu verstärken“ (Anz 1998, 10).

      Weshalb ist die reflexionsstimulierende Funktion von Literatur und auch von Filmen oder Serien so wichtig? Für Luhmann erbringen Kunst und Literatur einen besonderen und besonders wichtigen Beitrag für die Gesellschaft: „Mehr und vor allem deutlicher als in anderen Funktionssystemen kann in der Kunst vorgeführt werden, daß die moderne Gesellschaft und, von ihr aus gesehen, die Welt nur noch polykontextural beschrieben werden kann“ (Luhmann 1997, 494). Daraus folgt: „Eine Zukunft kann es, auch für Kunst, nur geben, wenn für Differenz optiert wird […]“ (Luhmann 1997, 495). Luhmann schließt also mit einem emphatischen, in seinem Gesellschaftsbezug durchaus politisch zu nennenden Plädoyer für Kunst und Literatur. Und dies gilt genauso für Krimis, ganz gleich, wie sie (massen-)medial realisiert werden.

       Fragen zum Kapitel:

      Weshalb gibt es viele verschiedene Genredefinitionen?

      Was wäre Bestandteil einer Minimaldefinition des Krimis?

      Weshalb lohnt es sich, auf die konzeptionellen Hintergründe und auf die Realisierungen in Literatur, Film und Serie mehr zu achten?

      Welche Bedeutung hat Spannung?

      Welche Bedeutung haben der Rätsel- und der Spielcharakter?

      Was ist für ein kritisches Verständnis jedes Genres unabdingbar?

      Wann entstehen die heute verwendeten Gattungsbegriffe?

      Weshalb entsteht der Krimi im 18. Jahrhundert?

      Wie wirken Aufklärung und Moderne auf die Entstehung des Genres?

      Wie sieht das übliche Figurenpersonal aus?

      Weshalb ist das Panoptikum ein Bild der Ordnung moderner Gesellschaften?

      Wie setzt sich der Krimi mit der auf Selbstkontrolle gestellten modernen Disziplinargesellschaft auseinander?

      Was sind gängige Typen des Detektivs?

      Wie reagiert der Krimi auf die Komplexität (post-)moderner Gesellschaften?

      Was bezeichnen die Begriffe Bio-Macht und Bio-Politik?

      Inwiefern ist zwischen Gerechtigkeit und poetischer Gerechtigkeit zu unterscheiden?

      Welche Rolle spielen Emotionen bei der Lektüre von Krimis?

      Welche Rolle spielen symbolische Codierungen?

      Wie können Krimis die Spiel-Räume fiktionaler Literatur nutzen?

      Weshalb gibt es das ‚Böse‘ oder das ‚Gute‘ nicht?

      Weshalb kann die Inszenierung von Verbrechen als Code beschrieben werden?

      Welche Anforderungen an das Reflexionspotenzial stellen triviale Beispiele des Genres im Unterschied zu anspruchsvollen Beispielen?

      3. Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss

      3.1 ‚Ursprungserzählung‘ und Genretraditionen

      Bereits die Frage, wann die Genregeschichte des Krimis beginnt, ist ein Problem – gerade weil es kein Problem zu sein scheint. Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft formuliert die Ursprungserzählung des Krimis wie folgt: „Der Kriminalroman ist eine Weiterentwicklung der kurzen Kriminalgeschichte, wie sie sich im Anschluss an E. A. Poes ‚The Murders in the Rue MorgueThe Murders in the Rue Morgue‘ bei Autoren wie Conan DoyleConan Doyle, Arthur und ChestertonChesterton, Gilbert Keith zu einer thematisch festgelegten Erzählform ausgebildet hat“ (Wörtche 2007, 343). Und die verdienstvolle, grundlegende Zusammenstellung wichtiger Literatur über den Kriminalroman durch Jochen VogtVogt, Jochen eröffnet mit Klaus Günter JustJust, Klaus Günters Aufsatz „Edgar Allan Poe und die Folgen“ (Vogt 1971, 1, 9-32).

      Clemens PeckPeck, Clemens und Florian SedlmeierSedlmeier, Florian konstatieren zurecht, aber leider ebenfalls zustimmend, dass es sich bei dieser Ursprungserzählung um einen „Gemeinplatz“ handelt:

      Es ist ein literaturhistorischer Gemeinplatz, Edgar Allan Poes Trilogie kanonischer Kriminalerzählungen als Ausgangspunkt für eine Gattungsgeschichte und eine Gattungspoetik der Kriminalliteratur oder zumindest der Detektivgeschichte zu reklamieren. Als Gründungsurkunde der detective fiction gilt dabei vor allem Poes erste Erzählung ‚The Murders in the Rue Morgue‘ (1841) […]. (Peck / Sedlmeier 2015, 7)

      Ihnen ist uneingeschränkt beizupflichten (auch