Der Krimi in Literatur, Film und Serie. Stefan Neuhaus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Neuhaus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846355565
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und des Holocausts ganz unmittelbar in den Knochen. Aus heutiger Sicht scheint – abgesehen von zentralen Werten, wie sie in der UN-Menschenrechtscharta festgelegt sind – die Pluralität von Meinungen eher eine Stärke demokratisch verfasster Gesellschaften zu sein. Auch die, wie sie korrekt heißt, „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, eine rechtlich nicht bindende Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1948, lässt noch genug Spielraum für Interpretationen und Adaptionen.

      Das angesprochene Diskurspotenzial kann sich in der Literatur, die bekanntlich nicht an die Grenzen der Realität gebunden ist, noch einmal vervielfachen und es wird zu zeigen sein, dass die Antworten nicht nur zeitlich und kulturell bedingt sehr unterschiedlich ausfallen können, sondern dass sie auch immer, angesichts der Individualität der Protagonist*innen des Verbrechens und seiner bei aller Vergleichbarkeit stets vorhandenen Singularität, eine gewisse Unschärfe aufweisen. Gerade Literatur hat, weil sie polykontextuell, polyperspektivisch angelegt und polyvalent ist, das Potenzial, darauf aufmerksam zu machen: „literature and the literary imagination are subversive“ (Nussbaum 1995, 2). Es hilft auch nichts, wenn eine spezifische Auffassung von Gerechtigkeit vorausgesetzt wird. Damit würde nur, wie in der Trivialliteratur üblich, überdeckt, dass es hinter dieser Setzung keine überzeugende Begründung gibt.

      Wenn es um Gerechtigkeit geht, lässt sich etwa die sogenannte Goldene Regel anführen: „Was du nicht willst, das man dir tue, das tue auch einem anderen nicht; oder, positiv ausgedrückt: Was du willst, dass [sic] man dir tue, das tue du auch den anderen“ (Kelsen 2016, 34f.). Das Problem ist nur, dass Menschen unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen haben. Das kennen wir bereits vom Schenken an Geburtstagen und an Weihnachten: Wenn wir das verschenken, das wir selber gern geschenkt bekommen würden, können wir fast sicher sein, dass die oder der Beschenkte sich nicht freut. Immanuel Kant hat mit dem Kategorischen Imperativ versucht, die Regel etwas anspruchsvoller auszuführen: „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1974, 51). Doch auch hier ist die Individualität der entscheidende Störfaktor: Wenn ich möchte, dass der Staat stärker Schokolade subventioniert als Brot, dann haben nur diejenigen etwas davon, die wie ich gern Schokolade essen.

      Auch die Frage nach dem Einsatz von Gewalt wird so fragwürdig, etwa Gewalt gegen Frauen, die bis vor nicht allzu langer Zeit staatlich legitimiert war, etwa wenn der Ehemann sein angebliches Recht auf Beischlaf ausübte, oder Gewalt gegen Kinder, wenn es in der Schule und später dann immerhin noch innerhalb der Familie bis vor nicht allzu langer Zeit erlaubt war, Kinder körperlich zu züchtigen. Immer noch gibt es Gesetzgebungen, die fragen lassen, ob sie das Gewaltmonopol des Staates nicht missbrauchen – etwa wenn die Abtreibungsgegner weiterhin bestimmen können, dass Abtreibungskliniken und -ärzte nicht durch Werbung auf sich aufmerksam machen dürfen.

      Michel FoucaultFoucault, Michel hat hierfür die Begriffe der Bio-Macht und der Bio-Politik geprägt:

      Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung. Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat. (Foucault 1983, 166)

      Foucault hat weiter festgestellt: „[…] verschiedenste Techniken zur Unterwerfung der Körper und zur Kontrolle der Bevölkerungen schießen aus dem Boden und eröffnen die Ära einer ‚Bio-Macht‘“ (Foucault 1983, 167). Nun ist es Aufgabe des Staates, der auch in den westlichen Demokratien immer noch ein Gewaltmonopol hat (wie sollte es sinnvoll an Einzelne delegiert werden?), Regelungen zu finden, die das Individuum auch in seiner körperlichen Integrität und Selbstbestimmtheit möglichst schützen. Doch wie weit muss man das Individuum vor sich selbst schützen, etwa durch Verbote von Drogen oder durch hohe Steuern auf Tabak? Wieviel Zwang darf der Staat im Interesse der Gemeinschaft aller Bürger auf größere oder kleinere Gruppen oder auch auf einzelne Individuen ausüben?

      Ferdinand von SchirachSchirach, Ferdinand von, der auch berühmte Kriminalerzählungen und -romane geschrieben hat, hat in seinem Theaterstück Terror von 2015 – unter dem Titel Terror – Ihr UrteilTerror – Ihr Urteil von Lars KraumeKraume, Lars verfilmt und 2016 in der ARD, zeitgleich im ORF und im SRF ausgestrahlt – die Frage gestellt (und durch das Publikum beantworten lassen), ob die Bundeswehr ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug abschießen darf, das die Terroristen in einem vollbesetzen Fußballstadion zum Absturz bringen wollen. Darf der Staat aktiv werden und unschuldige Passagiere töten, um eine größere Zahl unschuldiger Fußballfans zu retten?

      Die skizzierten Fragen nach dem Verhältnis von individuellen und gruppen- oder staatsspezifischen Interessen spielen bei der Motivierung und bei der Beurteilung von Verbrechen eine zentrale Rolle. Ulla HahnHahn, Ulla schildert in ihrem Debütroman Ein Mann im HausEin Mann im Haus (1991) den Fall einer Frau, die ihren Geliebten, der ihr immer wieder vorgelogen hat, er werde für sie seine Frau verlassen, in einen Keller sperrt, vergewaltigt und foltert, bis sie ihn schließlich, solchermaßen physisch und psychisch gedemütigt, wieder freilässt. Hier stellt sich die Frage nach der poetischen Gerechtigkeit: Die Sympathien der Leserinnen, aber sicher auch der aufgeklärten Leser werden bei der Protagonistin Maria Wartmann sein, eingedenk einer langen Tradition straffreier Misshandlungen von Frauen durch Männer und des rücksichtslosen Verhaltens Hans Egons, des örtlichen Küsters und Chorleiters. Dazu kommt die bereits in der Namensgebung und Berufsbezeichnung erkennbare Ironie der Schilderung, die ebenso wie die kunstvolle Sprache gegen einen banalen Realismus arbeitet und so Reflexionsanreize setzt.

      Gerechtigkeit und poetische Gerechtigkeit sind demnach zu unterscheiden, zumal es sich bei Figuren nicht um Menschen handelt und literarische Texte oder Filme Versuchsanordnungen bieten, die vielleicht an mögliche Fälle in der Realität angelehnt sind, sich aber nicht genau so in der Realität zugetragen haben oder zutragen werden.

      2.5 Rationalität und Emotionalität

      Zunächst einmal ist festzustellen, „daß Lesen von Literatur generell ein hochgradig emotionaler Vorgang ist“ (Anz 1998, 23). „Literature is in league with the emotions. Readers of novels, spectators of dramas, find themselves led by these works to fear, to grief, to pity, to anger, to joy and delight, even to passionate love“ (Nussbaum 1995, 53). Wenn schon allgemein für die Rezeptionssituation eine Analogie von Lektüre und Drogenkonsum gezogen werden kann: „Nietzsche schließlich erklärte den Rausch überhaupt zur Bedingung und Wirkung von Kunst“ (Anz 1998, 55), dann erhöhen besondere Handlungsreize wohl noch die „narkotische Wirkung“ (ebd.). Sex and Crime, Eros und Thanatos, Liebe und Tod setzen die stärksten Reize und wenn das Leben nicht sicher und mit Gefahr verbunden ist, oftmals in Tateinheit mit extremen Leidenschaften, dann sind wohl kaum stärkere Narkotika denkbar. Dazu passt auch, dass Conan DoyleConan Doyle, Arthur seinen emotional offenbar niemals ausgelasteten Meisterdetektiv Sherlock Holmes mit Drogen Selbstexperimente durchführen lässt.

      Thomas AnzAnz, Thomas hat weiter darauf hingewiesen, dass Menschen so in den Stand gesetzt werden, durch die Zivilisation brachliegende anthropologische Konstanten zu bearbeiten. Die Gattung musste sich schließlich erst etablieren: „Lust ist in auffälliger Weise mit Tätigkeiten verbunden, die aus evolutionsbiologischer Perspektive dem Überleben dienen“ (Anz 1998, 56). Aber: „Die Lustprämien bleiben freilich auch dann wirksam, wenn die durch sie motivierten Tätigkeiten zum Überleben nicht mehr oder nicht andauernd nötig sind“ (ebd.). Die veränderten Lebensweisen im Zivilisationsprozess machen es erforderlich, entweder Disziplin zu trainieren und Impulse zu unterdrücken oder Ventile zu schaffen, die im Idealfall zur zivilisatorischen Entwicklung beitragen. Deshalb wäre es auch „problematisch“, Fiktionen „als mehr oder weniger sublimierte sexuelle oder auf andere Objekte verschobene narzißtische Lust zu erklären“ (Anz 1998, 95).

      Das Lesen hat viele Funktionen, etwa ‚realitätsbezogene Erkenntnisse‘ zu vermitteln oder „Mittel zur Bewältigung verschiedenster Lebenssituationen“