Beschwer
Ein Widerspruch ist nur zulässig, wenn der Beschwerdeführer geltend machen kann, durch den VA in seinen eigenen (subjektiv-öffentlichen) Rechten (vgl. 1.1.4) verletzt, d. h. selbst beschwert zu sein. Das ergibt sich aus dem Gesetz zwar unmittelbar nur für die Klage (vgl. § 54 Abs. 1 S. 2 SGG/§ 42 Abs. 2 VwGO), setzt aber die Selbstbetroffenheit für das Vorverfahren durch den „Beschwerten“ logisch voraus (vgl. § 84 SGG/§ 70 VwGO). Für die Beschwerde reicht allein die Möglichkeit einer (Rechts-)Verletzung aus, weshalb Adressaten von belastenden VA grds. immer widerspruchsbefugt sind. Darüber hinaus können jedoch auch Dritte durch einen VA beschwert und somit zum Widerspruch berechtigt sein. Im allgemeinen Verwaltungsrecht ist das z. B. bei Baugenehmigungen der Nachbarn des Adressaten der Fall, da von einem Neu-, An- oder Umbau auch ihr Grundstück faktisch oder in seinem Wert betroffen sein kann. Im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende können z. B. die Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft beschwert sein, die bei einer Kürzung des Alg II beim Adressaten wegen einer Sanktion nach § 31a SGB II (III-4.18) mitbetroffen sind, da dadurch das verfügbare Haushaltseinkommen sinkt.
Suspensiveffekt
Der Widerspruch hat – ebenso wie die Anfechtungsklage – bei der Anfechtung eines VA grds. eine aufschiebende Wirkung (sog. Suspensiveffekt; § 86a Abs. 1 SGG, § 80 Abs. 1 VwGO), d. h. der VA wird nicht bestandskräftig (vgl. III-1.3.1.2) und darf deshalb grds. nicht vollstreckt werden. Keine aufschiebende Wirkung tritt dagegen u. a. in folgenden Fällen ein:
■ bei der Anforderung von öffentlichen Beiträgen, Abgaben und Kosten sowie Steuern und Gebühren (§ 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG/§ 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; zur Frage der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen einen Kostenbeitragsbescheid im Jugendhilferecht s. III-3.5.4),
■ bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten im Rahmen der Gefahrenabwehr (§ 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO),
■ für die Anfechtungsklage in Angelegenheiten der Sozialversicherung bei VA, die eine laufende Leistung herabsetzen oder entziehen (§ 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG),
■ in den durch Bundes- oder Landesgesetz geregelten Fällen (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG, § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), z. B. § 39 SGB II (Aufhebung und Widerruf von Leistungen der Grundsicherung), §§ 77 Abs. 4, 88 Abs. 4 SGB IX (z. B. Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung eines schwerbehinderten Menschen); §§ 15a, 24 Abs. 4, 84 Abs. 1 AufenthG (insb. Versagung von Aufenthaltstiteln),
■ in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung des VA im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde besonders angeordnet worden ist (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG/§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Hier besteht aber die Möglichkeit, die aufschiebende Wirkung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gerichtlich wieder herstellen zu lassen (§ 86b SGG; § 80 Abs. 5 VwGO; s. u.).
Devolutiveffekt
Wenn die Ausgangsbehörde dem Bürger nicht Recht gibt und damit seinem Widerspruch nicht „abhilft“ (§ 85 Abs. 1 SGG/§ 72 VwGO), erlässt den Widerspruchsbescheid im hierarchischen Behördenaufbau grds. die nächsthöhere Behörde (sog.Devolutiveffekt; § 85 Abs. 2 Nr.1 SGG/§ 73 VwGO), d. h. der Widerspruch muss grds. der nächsthöheren Behörde vorgelegt werden, wodurch eine weitere Stufe verwaltungsinterner Kontrolle hinzukommt. In Angelegenheiten der Sozialversicherung entscheidet die hierzu von der Vertreterversammlung bzw. dem Verwaltungsrat bestimmte Stelle (§ 85 Abs. 2 Nr. 2 SGG), in sonstigen (insb. kommunalen) Selbstverwaltungsangelegenheiten (Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises, z. B. Jugend- und Sozialhilfe), in denen ja eine nächsthöhere Behörde nicht besteht, entscheidet der Träger grds. selbst (§ 85 Abs. 2 Nr. 4 SGG, § 73 Abs. 1 Nr. 3 VwGO), es sei denn, durch Landesrecht wird etwas anderes bestimmt (z. B. erlässt den Bescheid über den Widerspruch gegen den VA einer kreisangehörigen Gemeinde in Selbstverwaltungsangelegenheiten nach § 27 Abs. 1 des Sächsischen Justizgesetzes das Landratsamt, dessen Rechtsaufsicht die Gemeinde untersteht, als Rechtsaufsichtsbehörde. Die Nachprüfung des VA unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit bleibt der Gemeinde vorbehalten). Entscheidet der Selbstverwaltungsträger nach § 85 Abs. 2 Nr. 4 SGG, § 73 Abs. 1 Nr. 3 VwGO selbst, so wird nach dem jeweiligen Organisationsrecht (Gemeindesatzung; s. 1.1.3.4) eine entsprechende Stelle festgelegt, welche die Widerspruchsentscheidung trifft (z. B. der Jugendhilfeausschuss bei einem Widerspruch gegen einen VA des JA, zum Widerspruchsverfahren im Jugendhilferecht vgl. Münder et al. 2013b, Anhang Verfahren Rz. 57 ff.; im Hinblick auf die Sozialhilfe s. a. § 99 SGB XII). Wird dem Widerspruch nicht abgeholfen, bleibt noch der Klageweg (s. 5.2.3).
Verböserung
Im Rahmen der verwaltungsinternen Rechtskontrolle findet eine uneingeschränkte Überprüfung des Verwaltungshandelns – auch des Ermessens (anders ist dies im gerichtlichen Verfahren, vgl. § 114 VwGO; s. 3.4.2) – statt. Anders als im Klageverfahren vor den Gerichten (§ 88 VwGO) kann im Widerspruchsverfahren der VA unter Maßgabe der §§ 44 ff. SGB X (hierzu III-1.3.1.3) auch zuungunsten des Bürgers abgeändert werden (sog. „Verböserung“ – reformatio in peius), denn es handelt sich ja noch um eine verwaltungsinterne Prüfung der Recht- und Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Insoweit ist der Vertrauensschutz bei einem noch nicht bestandskräftigen VA geringer als nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist. Die Rechtmäßigkeit der Widerspruchsentscheidung (und damit auch einer möglichen reformatio in peius) beurteilt sich damit stets nach dem materiellen und dem entsprechenden Organisationsrecht der Verwaltung (vgl. Diering / Timme 2016, Vor §§ 44 Rz. 12; Kopp / Schenke 2016, § 68 Rz. 10).
Kosten
Das Widerspruchsverfahren ist als Teil des Sozialverwaltungsverfahrens für den Beschwerdeführer kostenfrei (§§ 62, 64 SGB X). Soweit dem Bürger selbst, z. B. durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts, Kosten entstanden sind, werden diese im Rechtsbehelfsverfahren erstattet, wenn der Widerspruch Erfolg hatte (bzw. nur deshalb keinen Erfolg hat, weil die Verletzung einer Verfahrens- oder Formvorschrift nach § 41 SGB X unbeachtlich ist) und die Kosten „zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung“ notwendig waren (§ 63 Abs. 1 u. 2 SGB X). Rechtsanwaltskosten werden also nur erstattet, wenn ein vernünftiger Bürger mit durchschnittlichem Bildungs- und Erfahrungsstand in der Sache einen Anwalt zurate gezogen hätte (BSG 24.05.2000 – 7 C 8 / 99 – NJW 2000, 611; BSG 25.02.2010 – B 11 AL 24 / 08). Nach einem Beschluss des BVerfG (1 BvR 1517 / 08 – 11.05.2009) kann es einem Beschwerdeführer nicht zugemutet werden, den Rat derselben Behörde in Anspruch zu nehmen, deren Entscheidung er im Widerspruchsverfahren angreifen will.
5.2.3 Gerichtliche Kontrolle
Die Kontrolle der Exekutive durch eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit ist historisch gesehen relativ neu, widersprach sie doch den Herrschaftsinteressen absoluter Monarchen und den früher üblichen feudalen Strukturen. Es war einfach kaum vorstellbar, den Monarchen bzw. den Adel zu verklagen. Soweit die Exekutive überhaupt einer Kontrolle unterlag, wurde diese von Aufsichtsbehörden wahrgenommen, die den Regenten unterstellt waren (sog. Verwaltungsrechtspflege), womit die Verwaltung einer „ordentlichen“ Gerichtsbarkeit entzogen war („Kameraljustiz“); vgl. hierzu die Legende vom Müller und dem König:
Der Müller und der König
Bei der Geschichte vom Streit des Müllers Grävenitz mit Friedrich II. handelte es sich teilweise um eine Legende. Grävenitz betrieb