Verfassungsbeschwerde
Die Bürger können das BVerfG auch direkt wegen einer Verletzung ihrer Grundrechte anrufen (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Voraussetzung ist, dass sie selbst noch gegenwärtig und unmittelbar durch eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt, sei es eine Verwaltungsentscheidung, ein Gerichtsurteil oder ausnahmsweise auch ein Gesetz, in ihren Rechten betroffen sind. Damit sind in der Vergangenheit abgeschlossene Eingriffe in die Grundrechte ebenso wie sog. Popularklagen (Klagen für andere) ausgeschlossen. Grds. ist eine Verfassungsbeschwerde (hierzu im Einzelnen Pieroth et al. 2015, § 34) erst nach Ausschöpfung des Rechtsweges zulässig, d. h., dass alle möglichen Rechtsbehelfe (verwaltungsinterne Kontrollen, Berufung, Revision oder Beschwerde an die nächsthöhere Instanz) eingelegt und erfolglos gewesen sein müssen. Das BVerfG ist aber keine „Superrevisionsinstanz“, es prüft also nicht die Verletzung des „einfachen Rechts“, sondern nur des Verfassungsrechts und beschränkt die Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen darauf, ob diese „objektiv willkürlich“ sind und damit gegen Art. 3 GG verstoßen. Nur ausnahmsweise kann eine Verfassungsbeschwerde vor Ausschöpfung des Rechtsweges eingelegt werden, wenn der Verweis auf den Rechtsweg nicht zumutbar oder die Verfassungsbeschwerde von allgemeiner Bedeutung ist (§ 90 Abs. 2 BVerfGG). Angesichts der hohen Zahl von Verfassungsbeschwerden (jährlich über 6.000 Verfahren = 96% der anhängigen Verfahren) wurden mit drei Richtern besetzte Kammern eingeführt, die vorab prüfen, ob eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen wird. Letztlich wird nur etwa 2 % der Verfassungsbeschwerden stattgegeben. Allerdings haben einige dieser Verfassungsbeschwerden die Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland entscheidend geprägt, z. B. die folgenden Entscheidungen (vgl. Grimm et al. 2007; Menzel 2011; Schwabe 2004):
■ Recht auf informationelle Selbstbestimmung, sog. „Volkszählungs-Entscheidung“ 1 BvR 209 u. a./83 – 15.12.1983 (BVerfGE 65, 1) sowie Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung (1 BvR 256 / 08 – 02.03.2010);
■ Schule und Religion:
– Lehrerin mit Kopftuch BVerfG 2 BvR 1436 /02 – 24.09.2003: Ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, bedarf einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage;
– Kruzifix-Entscheidung 1 BvR 1087 / 91 – 16.05.1995 (BVerfGE 93, 1): Die staatlich veranlasste Anbringung von Kreuzen in allgemeinen staatlichen Schulen ist mit dem Neutralitätsprinzip als objektivem Verfassungsrecht unvereinbar;
■ Familie und Elternverantwortung (Art. 6 GG):
– z. B. Stellung der Eltern im Jugendstrafverfahren (BVerfG 2 BvR 716 / 01 – 16.01.2003 = ZJJ 2003, 68 ff.);
– Unterhaltsberechnung (BVerfG 1 BvR 105, 559 / 95 − 05.02.2002);
– Familienname (BVerfG 1 BvR 683 / 77 − 31.05.1978 = E 48, 327): Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 GG, wenn Geburtsname der Frau nicht zum Familiennamen bestimmt werden kann;
– Ausschluss des Vaters eines nicht ehelichen Kindes von der elterlichen Sorge bei Zustimmungsverweigerung der Mutter ist verfassungswidrig (BVerfG 1 BvR 420 /09 − 21.07.2010);
■ Meinungs- und Kunstfreiheit (Art. 5 GG):
– „Mephisto“ – 24.02.1971 (BVerfGE 30, 173): Inhalt und Reichweite der Kunstfreiheit;
– „Lüth“ – 15.01.1951 (BVerfGE 7, 198): Wesen der Grundrechte und Inhalt und Umfang der Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG;
■ Strafrecht (hierzu IV):
– Unschuldsvermutung (BVerfG 2 BvR 1481 / 04 – 14.0.2004);
– Verbot der Doppelbestrafung (BVerfGE 21, 378);
– Bestimmtheitsgebot (BVerfGE 92, 1 ff.; BVerfG 2 BvR 794 / 95 – 20.03.2002);
– Verbot des „großen Lauschangriffs“ (BVerfG 1 BvR 2378 / 98 – 03.03.2004; E 109, 279);
– Strafvollzug (BVerfGE 33, 1; BVerfG 2 BvR 1673 / 04 – 31.05.2006 – ZJJ 2006, 193 ff. zum Jugendstrafvollzug): Auch innerhalb sog. „Sonderrechtsverhältnisse“ (besonderer „Gewaltverhältnisse“ z. B. Strafvollzug, geschlossene Unterbringung) bedürfen weitere, über das Grundverhältnis hinausreichende Beschränkungen der Grundrechte (z. B. Briefzensur, beschränkte Nutzung von Medien) einer gesetzlichen Grundlage;
– Strafvollzug (BVerfG 1 BvR 409 / 09 – 22.02.2011): Die Strafvollstreckung ist zu unterbrechen und ein Inhaftierter zu entlassen, wenn und solange eine weitere Unterbringung nur unter menschenunwürdigen Bedingungen möglich ist;
– Sicherungsverwahrung und Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgebot für das Strafrecht (BVerfG 2 BvR 2365 / 09, 2 BvR 740 / 10 – 04.05.2011; BVerfG 2 BvR 1238 / 12 – 07.05.2013).
■ Verhältnis EU-Recht – Nationales Recht, BVerfG 2 BvR 2735 / 14 – 15.12.2015 (Vorbehalt der Verfassungsidentität) und BVerfG 2 BvR 2728 / 13 – 21.06.2016 zum sog. „Outright-Monetary-Transactions“-Programm der EZB)
In den letzten Jahren sind einige Massenbeschwerden mit jeweils über 20 – 30.000 Beschwerdeführern erhoben worden (z. B. 2007 knapp 35.000 Beschwerdeführer gegen die Vorratsdatenspeicherung; vgl. BVerfG 1 BvR 256 / 08 v. 02.03.2010; in 2010 etwa 22.000 Beschwerden gegen die Arbeitnehmerdatenbank ELANA). Neben dem BVerfG haben die Verfassungsgerichte der Länder eine weit geringere Bedeutung entsprechend der eingeschränkten Bedeutung der Landesverfassungen (vgl. 1.1.3.1).
5.1.2 Europäische und internationale Gerichtsbarkeiten
Neben der nationalen Gerichtsbarkeit hat mittlerweile auch die Europäische Gerichtsbarkeit eine große Bedeutung, vor allem der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg und der vom Europarat eingerichtete Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg. „Gerichtshof der EU“ bezeichnet genau genommen das gesamte Gerichtssystem der EU (Art. 19 EUV), das aus dem EuGH, dem ihm nachgeordneten „Gericht (erster Instanz) der Europäischen Union“ (EuG) sowie den noch einzurichtenden europäischen Fachgerichten (bislang nur Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union) besteht.
Der EuGH ist ein Organ der EU (Art. 19 EUV) und wacht vor allem über die Einhaltung des EU-Rechts (hierzu 1.1.5.1), kann aber direkt nur von Mitgliedstaaten und den Organen der Europäischen Union angerufen werden. Daneben wurde 1989 zur Entlastung des EuGH das schlicht „Gericht“ (Art. 256 AEUV) genannte „Europäische Gericht (EuG) erster Instanz“ eingerichtet, welches für Entscheidungen im ersten Rechtszug über Klagen zuständig ist, die von den Mitgliedstaaten oder Privatpersonen und Unternehmen in den Fällen erhoben werden, die die europäischen Verträge vorsehen. Das können insb. Klagen gegen Maßnahmen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU sein, die an sie gerichtet sind oder sie unmittelbar und individuell betreffen, z. B. eine Entscheidung der Kommission, mit der eine Geldbuße auferlegt wurde.
Eine der weitreichendsten Entscheidungen des EuGH ist die im Verfahren van Gend & Loos von 1963 getroffene,