Grundzüge des Rechts. Thomas Trenczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Trenczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846387269
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er den Müller Grävenitz aufforderte, ihm seine Mühle zu verkaufen. Für den Kauferlös sollte er dann an anderer Stelle eine neue Mühle errichten. Als sich der trotzige Müller weigerte, den durch Erbpacht gesicherten Mühlenstandort zu verlassen, habe der König gedroht, ihm die Mühle kraft seiner königlichen Macht „ohne einen Groschen“ wegnehmen zu lassen. Daraufhin habe der mutige Müller geantwortet: „Gewiss, das könnten Eurer Majestät wohl tun, wenn es nicht das Kammergericht in Berlin gäbe.“

      Historisch dokumentiert ist der eigentlich zivilrechtliche Streit des Müllers Christian Arnold, der seit 1762 eine Wassermühle im neumärkischen Pommerzig betrieb, mit dem Grafen von Schmettau um Absenkung der Erbpacht. Als der Müller seine Pacht nicht mehr bezahlen konnte, verklagte ihn der Graf und ließ die Wassermühle kurzerhand versteigern. Arnold wehrte sich mit einer Gegenklage und behauptete, Landrat von Gersdorff habe oberhalb seiner Mühle einen Karpfenteich angelegt, ihm somit das Wasser entzogen und ihn unverschuldet in Pachtrückstand getrieben. Als das Obergericht der Provinz Küstrin Arnolds Schadensersatzklage abwies, bat der Müller Arnold Friedrich II. um Rechtsbeistand. Der König nahm sich der Sache an, doch erst nachdem auch das extra einberufene Appellationsgericht das Küstriner Urteil als rechtens bestätigt hatte, griff der König, der vom Recht des Müllers überzeugt war, in das Gerichtsverfahren selbst ein. Im Glauben, die Justiz verweigere seinen Untertanen aus Standesdünkel eine gerechte Behandlung, schrieb er an den Justizminister von Zedlitz: „Der Herr wird mir nichts weiß machen. Ich kenne alle Advokaten-Streiche und lasse mich nicht verblenden. Hier ist ein Exempel nötig, weil die Canaillen enorm von meinem Namen Missbrauch haben, um gewaltige und unerhörte Ungerechtigkeiten auszuüben. Ein Justitiarius, der chicanieren tut, muss härter als ein Straßenräuber bestrafft werden. Denn man vertraut sich am ersten, und vorm letztern kann man sich hüten!“ Friedrich II. schickte einen Oberst und einen Regierungsrat nach Pommerzig, um sich Klarheit zu verschaffen. Erst als diese zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangten, verwies Friedrich den Fall, „um die Sache ganz kurz abzumachen“, zur endgültigen Klärung an das Berliner Kammergericht. Aber auch dieses höchste preußische Gericht wies die Arnold-Klage zurück (vgl. www.kleiekotzer.com/html/sanssouci_2.html, 27.06.2017).

      Eine effektive, rechtsgebundene Kontrolle der öffentlichen Verwaltung ist heute Kennzeichen des Rechtsstaates. Allerdings trat die VwGO erst 1960 in Kraft, womit die Verwaltungsgerichtsbarkeit als unabhängiger Zweig der Justiz installiert wurde.

      Verwaltungsgerichte

      Den auf der Grundlage von Art. 95 GG eingerichteten Verwaltungsgerichten obliegt nach § 40 VwGO die Rechts- und Verwaltungskontrolle nach Art. 19 Abs. 4 GG in sämtlichen öffentlich-rechtlichen Entscheidungen und Maßnahmen, soweit sie nicht gesetzlich anderen Gerichten zugewiesen sind. Den Sozialgerichten obliegt im Wesentlichen die Kontrolle der Sozialversicherungsträger sowie der Sozialhilfeverwaltung (vgl. § 51 SGG). Spezielle Rechtswegzuweisungen zur Sozialgerichtsbarkeit nach § 51 Abs. 1 Nr. 10 SGG enthalten u. a. § 13 Abs. 1 BEEG, § 27 Abs. 2 Berufliches RehabilitierungsG, § 11 Abs. 8 BVFG, § 68 Abs. 2 InfektionsschutzG sowie § 5 SchwHG.

      Die Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit ist dreistufig aufgebaut (§ 2 SGG/§ 2 VwGO). In erster Instanz sind i. d. R. die Sozial- und Verwaltungsgerichte zuständig (§ 8 SGG/§ 45 VwGO). Berufungs- und Beschwerdeinstanz sind die Landessozial- (§§ 28 f. SGG) bzw. Oberverwaltungsgerichte (OVG) und Verwaltungsgerichtshöfe (VGH) der Bundesländer (§§ 46 ff. VwGO). Diese sind zudem erste Instanz bei Normenkontrollen von Satzungen, landesrechtlichen Vereinsverboten und Genehmigungen von Großprojekten. Revisions- und Rechtsbeschwerdeinstanz ist das BSG in Kassel bzw. das BVerwG mit Sitz in Leipzig. Auch diese können erstinstanzlich entscheiden, z. B. in Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art zwischen Bund und Ländern (§ 39 SGG/§ 50 VwGO).

      Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sind Berufung und Revision grds. nur zulässig, wenn sie im Urteil zugelassen worden sind (§ 124 bzw. § 132 VwGO). Im sozialgerichtlichen Verfahren gilt dies immer für die Revision (§ 160 SGG), die Berufung bedarf mitunter der Zulassung (insb. in den sog. Bagatellsachen, vgl. § 144 SGG). Unterbleibt die Zulassung der Überprüfung, kann diese durch eine Beschwerde bei der nächsthöheren Instanz beantragt werden (sog. Nichtzulassungsbeschwerde, §§ 145, 160a SGG / §§ 124a, 133 VwGO).

      Klagearten

      Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (auf Aufhebung eines belastenden bzw. auf Erlass eines begünstigenden VA gerichtete Gestaltungsklagen, vgl. § 54 SGG/§ 42 VwGO) setzen grds. ein Widerspruchsverfahren voraus (beachte insoweit die Ausnahmeregelung in einigen Bundesländern, s. 5.2.2). Die Erhebung dieser Klagen ist nur innerhalb einer Frist von einem Monat nach Zustellung des Widerspruchsbescheids zulässig (§ 87 SGG/§ 74 VwGO). Bei einer fehlenden oder fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung kann die Klage innerhalb eines Jahres erhoben werden (§ 66 SGG/§ 58 VwGO). Die Klage ist grds. nur zulässig, wenn der Kläger geltend machen kann, in seinen Rechten verletzt zu sein (Klagebefugnis, vgl. § 54 Abs. 1 S. 2 SGG/§ 42 VwGO). Eine sog. Untätigkeitsklage, bei der es ja an einem VA gerade fehlt, weil die Behörde nicht entscheidet, kann nach § 88 Abs. 2 S. 1 SGG/§ 75 S. 2 VwGO nicht vor Ablauf von drei Monaten nach Einlegung des Widerspruchs bzw. des Antrags auf Erlass eines VA bzw. nach § 88 Abs. 1 S. 1 SGG nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des VA erhoben werden. Ziel der sog. allgemeinen Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG; vgl. § 43 Abs. 2 VwGO, insb. Folgenbeseitigungsanspruch) bzw. Unterlassungsklage ist u. a. die Vornahme bzw. Unterlassung sog. schlicht-hoheitlicher Verwaltungsmaßnahmen bzw. Realakte (also nicht eines VA, wohl aber die Umsetzung eines VA, z. B. die Auszahlung eines bewilligten Zuschusses) oder die Beseitigung der Folgen eines rechtswidrigen Verwaltungshandelns. Ziel einer Feststellungsklage (§ 55 SGG/§ 43 Abs. 1 VwGO) ist die verbindliche Feststellung, dass ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis (z. B. die Staatsangehörigkeit, eine Gesundheitsstörung oder Schwerbehinderung) besteht bzw. nicht besteht (z. B. wegen Nichtigkeit eines VA). Sie ist aber nur zulässig, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung als solcher hat, was i. d. R. nicht der Fall ist, wenn sich das Ziel immanent mit einer Gestaltungs- oder Leistungsklage erreichen lässt (§ 43 Abs. 2 VwGO). Obwohl § 55 SGG keine entsprechende Regelung enthält, gilt der Subsidiaritätsgrundsatz grds. auch für die sozialgerichtliche Feststellungsklage (BSG B 10 LW 4 / 05 R – 05.10.2006), es sei denn, es soll eine Feststellung gegenüber einer juristischen Person des öffentlichen Rechts ergehen, da diese nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden ist und demzufolge die gerichtliche Feststellung umsetzen wird, ohne dass es eines vollstreckbaren Verpflichtungs- oder Leistungsurteils bedarf (BSG B 1 KR 4 / 09 R – 27.10.2009).

      Untersuchungsgrundsatz

      Im sozial- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren gilt – anders als im streitigen zivilgerichtlichen Verfahren (hierzu 5.3.1) – der Untersuchungsgrundsatz (Amtsermittlungsgrundsatz, z. T. auch „Inquisitionsmaxime“ genannt), nach dem der Sachverhalt durch das Gericht von Amt wegen ggf. durch Beweiserhebungen festgestellt werden muss (§ 103 SGG/§ 86 VwGO).

      einstweiliger Rechtsschutz

      Schon vor Erhebung einer bzw. vor der gerichtlichen Entscheidung über eine Klage besteht die Möglichkeit eines einstweiligen Rechtsschutzes (hierzu ausführlich Francke / Dörr 2010, 146 ff.), damit während der manchmal mehrjährigen Dauer der Gerichtsverfahren nicht wesentliche Rechte faktisch verloren gehen. Insoweit unterscheidet man die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs (§ 86b Abs. 1 SGG/§ 80 Abs. 5 VwGO) und den Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 86b Abs. 2 SGG/§ 123 VwGO). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass Tatsachen, aus denen überhaupt ein Anspruch des Antragsstellers abgeleitet werden kann (Anordnungsanspruch), und zudem ein Anordnungsgrund glaubhaft (z. B. durch eine eidesstattliche Versicherung nach § 294 ZPO) gemacht werden. Ein Anordnungsgrund liegt nur dann vor, wenn der Antragsteller glaubhaft machen kann, dass die aufschiebende Wirkung bzw. einstweilige Anordnung erforderlich ist, um wesentliche Nachteile oder drohende Gefahren im Hinblick auf seine Rechte zu verhindern. In beiden Fällen überprüfen die Gerichte die Frage, wer denn nun eigentlich „Recht hat“, nicht umfassend, sondern lediglich in einem summarischen Verfahren, ob die Wiederherstellung