Grundzüge des Rechts. Thomas Trenczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Trenczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846387269
Скачать книгу
nach dem gewöhnlichen Aufenthaltsort (= Lebensmittelpunkt) des Kindes (Art. 5 KSÜ). Für ihre Anordnungen wenden die zuständigen Behörden und Gerichte dann das Recht des Staates an, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (vgl. Art. 21 EGBGB).

      Ergänzt wird das KSÜ durch das Europäische Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgerechts vom 20.05.1980 (Europäisches Sorgerechtsübereinkommen – ESÜ), welches in Deutschland 1991 in Kraft getreten ist. Es regelt vor allem die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher oder behördlicher Sorgerechts- und Umgangsentscheidungen in Fällen von Kindesentziehung und anderen Sorgerechtsfällen.

      Internationales Privatrecht i. e. S.

      Das IPR im engeren Sinne betrifft materiell-rechtliche Fragen und regelt im zweiten Kapitel des EGBGB (Art. 3 – 46c EGBGB) durch sog.Kollisionsnormen (Welche Norm soll Anwendung finden?) höchst unterschiedliche Regelungsbereiche: Fragen der Rechts- und Geschäftsfähigkeit (Art. 7 EGBGB) gehören ebenso dazu wie das Namensrecht (Art. 10 EGBGB) und vor allem familien- (Art. 13 ff. EGBGB), erb- (Art. 25 ff. EGBGB) und sachenrechtliche (Art. 43 ff. EGBGB) Aspekte. Neben der Grundvorschrift des Art. 3 EGBGB über den Vorrang des supranationalen Rechts enthalten Art. 3a ff. EGBGB einige Verweisungs- und Rückverweisungsvorschriften (z. B. sog.Renvoi nach Art. 4 EGBGB). Das für die Behandlung zahlreicher Fragen maßgebende Personalstatut (Art. 5 EGBGB) wird in Deutschland durch die Staatsangehörigkeit bestimmt (hierzu III-8.5). Im 7. Abschnitt des EGBGB (Art. 46a ff. EGBGB) finden sich eine Vielzahl von besonderen Vorschriften zur Durchführung von Regelungen der EU, die nach Art. 3 EGBGB den nationalen Konkurrenzregelungen vorgehen (s. o. 1.5.1.1 und 1.5.1.2). Die sog. Rom-I-Verordnung (593 / 2008 / EU) regelt z. B. das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (nach Art. 3 Vorrang einvernehmlicher Rechtswahl). Seit Januar 2009 soll nach der sog. Rom-II-Verordnung über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (864 / 2007 / EG) bei unerlaubten Handlungen i. d. R. das Recht des Staates zur Anwendung kommen, in dem der Schaden eingetreten ist. Mitte 2012 trat die sog. Rom-III-Verordnung (1259 / 2010 / EU) in allen EU-Mitgliedstaaten in Kraft, nach der im Hinblick auf das anzuwendende Recht bei Trennung von Ehen bzw. Ehescheidung stärker an den gewöhnlichen Aufenthalt und nicht vorrangig an die Staatsangehörigkeit angeknüpft wird und die insoweit auch ein (einvernehmliches) Wahlrecht der sich trennenden bzw. scheidenden Partner vorsieht. Aus einer Trennung / Scheidung resultierende Eigentums- und Unterhaltsfragen bleiben hiervon allerdings ebenso ausgeschlossen wie im Vorfeld zu klärende Aspekte (z. B. Gültigkeit der Ehe).

      ordre public

      Ein Beispielsfall: Das deutsch-französische Ehepaar Chantal und Fritz lebte mehrere Jahre zusammen mit seinem Kind in Jena. Die Eltern haben sich getrennt und möchten sich scheiden lassen. Nach Art. 14 Abs. 1 Nr. 2 EGBGB in Übereinstimmung mit Art. 3 Abs. 1a Brüssel-IIa-Verordnung 1259 / 2010 / EU richtet sich die Zuständigkeit der Gerichte bei binationalen Ehen nach deren gewöhnlichem Aufenthalt, hier ist also das Familiengericht in Jena zuständig (§§ 98 Abs. 1 Nr. 2, 122 Nr. 1 FamFG). Auch das im Hinblick auf die Scheidung des deutsch-französischen Ehepaars anzuwendende materielle Recht richtet sich entsprechend der Rom-III-Verordnung nach dem gewöhnlichen Aufenthalt, mithin ist das deutsche Recht anzuwenden. Anders ist dies z. B., wenn beide Ehepartner gleicher, nicht deutscher Staatsangehörigkeit sind. Dann kann es sein, dass das deutsche Gericht aufgrund der Regelungen des IPR das ausländische Privatrecht welchen Staates auch immer anwendet (mitunter auch die islamische Scharia; hierzu Muckel 2003; Rohe 2009 und 2011). Dies ist in Bezug auf Staaten der Fall, in denen die Scharia ausdrücklich als Rechtsquelle anerkannt ist (z. B. Ägypten, Bahrein, Jemen, Kuweit, Sudan, Syrien); darüber hinaus wird z. B. in Afghanistan, Saudi-Arabien und Pakistan die Scharia − von Ausnahmen in einzelnen Rechtsbereichen abgesehen – sogar mit der Rechtsordnung gleichgesetzt (Elger / Stolleis 2008/2017). Demgegenüber orientiert sich z. B. das Familienrecht der Türkei nicht an der Scharia, sondern am schweizerischen Familienrecht. Rein religiöse Normen, die nicht (auch) in staatliches Recht übernommen worden sind, können im Rahmen des IPR keine Geltung beanspruchen, allerdings durchaus unter Berücksichtigung der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 2 GG) im Alltagshandeln gelebt werden, sofern dabei das deutsche Recht nicht verletzt wird (grds. nicht zulässig z. B. rituelles Schlachten / Schächten im Hinblick auf § 4 Tierschutzgesetz, möglich aber Ausnahmegenehmigung; Verbot der Doppelehe / Polygamie, § 172 StGB).

      Aus dem IPR alleine ergibt sich schon die Bereitschaft des deutschen Gesetzgebers, die Regelungen anderer Staaten (also „fremdes Recht“) anzuerkennen, auch wenn sie im Ergebnis zu einer anderen Rechtsfolge als das deutsche Recht führen. Es gilt der international akzeptierte Grundsatz, dass das Recht zur Anwendung kommen soll, zu dem die Betroffenen den engsten Bezug haben, auch wenn der Aufenthaltsort (nur vorübergehend) gewechselt wird. Allerdings ist dies in einer Zuwanderungsgesellschaft problematisch für Menschen, die ihrer alten nationalen Rechtsordnung gerade entfliehen wollen. Nach Art. 6 EGBGB ist allerdings unter dem Begriff „ordre public“ eine Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung im konkreten Einzelfall zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist (vgl. z. B. BGH 06.10.2004 – XII ZR 225 / 01 – FamRZ 2004, 1952 für den Iran). Sie ist insb. nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten (hierzu 2.2) und Rechtsgrundsätzen unvereinbar ist. Nur in diesen extremen Fällen findet dann ersatzweise das deutsche Recht Anwendung.

      Bundesamt für Justiz

      Als zentrale Dienstleistungsbehörde der Bundesjustiz sowie als Anlaufstelle und Ansprechpartner für den internationalen Rechtsverkehr wurde 1997 das Bundesamt für Justiz (BfJ) in Bonn errichtet. Auf dessen Internetseite (http://www.bundesjustizamt.de ➝ Bürgerdienste ➝ Internationales Sorgerecht, 27.06.2017) findet man Formulare auf Deutsch und in zahlreichen anderen Sprachen für einen Antrag auf Kindesrückführung, Durchsetzung eines grenzüberschreitenden Umgangsrechts oder Anerkennung einer Sorge- oder Umgangsrechtsentscheidung.

      Borchardt 2015; Pasche 2013; Schulze et al. 2015; Sievers / Bienentreu 2006

      1.2.1 Zur Problemstellung

      Nicht wenige, vielleicht sogar die meisten der in der Sozialen Arbeit beschäftigten Menschen finden einen Zugang zu ihrem Beruf gerade auch über die Thematisierung von Gerechtigkeitsfragen. Die Motive hierfür und die Standpunkte, die dabei eingenommen werden, können naturgemäß sehr unterschiedlich sein. Sie reichen von Gerechtigkeitsvorstellungen, die sich an der Ethik des Christentums orientieren, über eine durch individuelle Erfahrung erworbene Fähigkeit, an der Not des anderen tätig Anteil zu nehmen, bis hin zu politisch begründeten Gerechtigkeitsüberzeugungen, wie sie sich etwa innerhalb der aktuellen sozialen Bewegungen artikulieren. Doch ganz gleich, ob dabei in kämpferischer Weise auf der Schaffung einer neuen, gerechteren Weltordnung bestanden oder der eher stillen Sehnsucht Ausdruck verliehen wird, im mühseligen Kampf gegen die Folgen sozialer Ungleichheit möge gelegentlich ein wenig mehr Gerechtigkeit obwalten – eine allgemeine Skepsis in Bezug auf die Möglichkeiten des Rechts, einen wirksamen Beitrag zur Herstellung von Gerechtigkeit zu leisten, wird dabei zumeist nicht unbemerkt bleiben können. „Gerechtigkeit und Recht“, so hört man immer wieder von Studierenden an Fachbereichen für Soziale Arbeit, „das sind zwei verschiedene Dinge“.

      Und in der Tat: Wenn G.F.W. Hegel formuliert, dass das Recht das sei, „was gleichgültig gegen die Besonderheit bleibt“ (Hegel 1821, § 49), so ist hierin möglicherweise schon ein Hinweis auf die Veranlassung einer solchen Attitüde enthalten. Bereits auf den ersten Blick legt eine derartige Charakterisierung nämlich schon mindestens zwei Eigenschaften von Recht nahe, die bei Menschen Befremden auszulösen vermögen, deren professionellem Selbstverständnis es entspricht, Empathie für ihre Mitmenschen zu entwickeln, sie also in ihrer jeweiligen Individualität anzunehmen. Das Problem steckt in dem Begriff „gleichgültig“. Dieser verweist nämlich zum einen auf eine Bedeutung im Sinne von „desinteressiert“. Und tatsächlich zeigt sich das Recht der individuellen Biografie des Einzelnen, seiner Besonderheit, wie Hegel es formuliert,