Supranationales Recht
Das Unionsrecht bildet eine eigenständige, originär europäische Rechtsordnung (sog. supranationales Recht; i.E. Borchardt 2015, 83). Das Europarecht beeinflusst die (nationale) Rechtspraxis nicht nur im öffentlichen Auftrags- und Subventionsrecht, Außenwirtschaftsrecht, dem Kartell- oder Verbraucherrecht; die europäischen Vorgaben wirken auch in Sachgebiete hinein, die traditionell dem nationalen Recht vorbehalten waren, z. B. Kaufrecht, Arbeitsrecht, Zivilprozessrecht oder die polizeiliche oder strafrechtliche Sozialkontrolle. Mithin ergibt sich ein Dualismus von Unionsrecht und dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten; das Verhältnis der beiden zueinander ist nicht ganz einfach und z. T. auch zwischen EuGH und BVerfG umstritten (hierzu Ludwigs/Sikora 2016). Das Primärrecht und das auf der Grundlage des EU-Vertrages erlassene Sekundärrecht verdrängen, soweit sie unmittelbar gelten (also auch EU-Verordnungen), entgegenstehendes nationales Recht jeder Art und Form, also auch Verfassungsrecht (vgl. bereits EuGH 26/20 - 05.02.1963 van Gend & Loos; EuGH 6-64 - 15.07.1964 – Costa/ENEL). EU-Richtlinien formen das deutsche Recht, bei dessen Anwendung im Übrigen stets eine unionskonforme Auslegung geboten ist. Die Missachtung des EU-Rechts kann unter bestimmten Voraussetzungen zu Amtshaftungsansprüchen führen (Schulze et al. 2015, 38). Obwohl das Unionsrecht prinzipiell Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht genießt, soll der Vorrang des Unionsrechts nach der Rechtsprechung des BVerfG jedoch nicht absolut gelten, sondern nur „solange“ das Handeln der Unionsgewalt nicht offensichtlich und „hinreichend qualifiziert“ kompetenzwidrig ist („ultra vires“ – „ohne Vollmacht“) und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und der EU führt. Das BVerfG selbst beansprucht diesen Kontrollvorbehalt, wobei es sich allerdings selbst sehr enge Beschränkungen auferlegt (zur sog. Ultra-Vires-Kontrolle vgl. BVerfG 2 BvR 2661/06 - 06.07.2010). Damit hat das BVerfG seine Rechtsprechung der berühmten „Solange“-Entscheidungen von 1974 und 1986 konkretisiert, nach denen es eine Prüfungskompetenz von EU-Recht beansprucht hatte, „solange der Integrationsprozess der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, dass das Gemeinschaftsrecht auch einen vom Parlament beschlossenen… Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des GG adäquat ist“ (BVerfGE 37, 271, 185 – 2 BvL 52/71 - 29.05.1974; BVerfGE 73, 339, 375 – 2 BvR 197/83 - 22.10.1986). Nach „Lissabon“ scheint es den Vorrang des EU-Rechts mit Ausnahme extremer Kompetenzverletzungen zu akzeptieren, ja positiv zu befürworten, obwohl gerade die demokratische Legitimation des EU-Rechts vor allem mangels der weiterhin begrenzten Wirkungsmöglichkeiten des EU-Parlaments (zur Wahl des EU-Kommissionspräsidenten durch das EU-Parlament nach Art. 17 Abs. 7 EUV, s. o.) immer noch umstritten ist (BVerfG 2 BvE 2/08 - 30.06.2009; vgl. zuletzt BVerfG 2 BvR 2728/13 - 21.06.2016 zum sog. „Outright Monetary Transactions“-Programm der EZB).
EU-Grundrechtecharta
Das entscheidende Kriterium ist also der Schutz der Grundrechte der EU-Bürger am Maßstab des Grundgesetzes (hierzu 2.2; sog. Vorbehalt der Verfassungsidentität, BVerfG 2 BvR 2735/14 - 15.12.2015 – Ablehnung der Auslieferung nach Italien trotz EU-Haftbefehl; hierzu Meyer 2016, 332). Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, dass die EU-Grundrechtecharta von 2000 (hierzu Jarass 2010), die noch als Teil der ursprünglich geplanten EU-Verfassung gescheitert war (s. o.), aufgrund des Lissaboner Vertrages zwar nicht erweitert, aber doch zumindest in der am 12.12.2007 in Straßburg angepassten Fassung als unmittelbar geltendes EU-Recht anerkannt wurde (Art. 6 Abs. 1 EUV; eingeschränkter Geltungsbereich, sog. opt-out für Großbritannien, Polen und Irland). Nach Auffassung des EuGH gehörten die Grundrechte der Mitgliedstaaten ohnehin zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts (EuGH 21.09.1989 – 46/87, 227/88 - NJW 1989, 3080). Art. 53 der Grundrechtecharta weist zudem mit Blick auf das Schutzniveau darauf hin, dass keine Bestimmung der Grundrechtecharta im Sinne einer Verschlechterung der durch die nationalen Verfassungen begründeten rechtlichen Stellung der Bürger ausgelegt werden darf. Darüber hinaus hat sich die EU verpflichtet, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK, s. 1.1.5.2) beizutreten, allerdings wurde der Beitritt bislang noch nicht vollzogen.
Recht auf Freizügigkeit
Teile des europäischen Rechts haben (nicht nur) für den Bereich der Sozialen Arbeit eine besondere Bedeutung. Die Angehörigen der EU-Staaten (sog. Unionsbürger, Art. 9 S. 2 EUV) haben im EU-Raum (also auch in Deutschland) im Wesentlichen dieselben Rechte, was sich insb. aus dem Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV) und dem Recht auf Freizügigkeit ergibt. Unter Freizügigkeit wird dabei Unterschiedliches verstanden, insb. geht es um die ArbN-Freizügigkeit (Art. 45 AEUV) und die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) sowie um die Freiheit des Dienstleistungs- (Art. 56 AEUV) und Kapitalverkehrs (Art. 63 ff. AEUV). Der Freizügigkeitsgedanke, zunächst vor allem auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zugunsten des zum 01.01.1993 errichteten einheitlichen europäischen Binnenmarktes ausgerichtet, führt im Alltagsleben vieler Unionsbürger zu erheblichen Erleichterungen und zu modernen Wanderungsbewegungen (zu rechtlichen Fragen der Migration s. III-7.2.1).
Der Binnenmarkt und seine Grundfreiheiten spielen auch eine erhebliche Rolle beim im März 2017 von Großbritannien angezeigten Austritt aus der EU („Brexit“). Einerseits waren die Einschränkungen der Zuwanderungskontrollen von Unionsbürgern aufgrund der ArbN-Freizügigkeit ein maßgebliches Argument zur Werbung für den Brexit, zudem muss im Rahmen der planmäßig zweijährigen Austrittsverhandlungen (Art. 50 Abs. 3 EUV) u. a. der dauerhafte Status der inzwischen in Großbritannien lebenden Unionsbürger ebenso geklärt werden wie derjenige von Briten in der EU. Andererseits will Großbritannien weiterhin einen möglichst ungehinderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt behalten. In Deutschland haben Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nach § 2 Frei-zügG/EU das Recht auf Einreise und das Recht auf Aufenthalt. Für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten genügt insoweit allein ein gültiger Personalausweis bzw. Reisepass (§ 2 Abs. 5 FreizügG/EU).ArbN und Selbstständige können für die Dauer ihrer Berufstätigkeit bleiben, Arbeitsuchende sich jedoch nur bis zu sechs Monate im Land aufhalten, bei entsprechenden Nachweisen ggf. auch länger (§ 2 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU). Da für die Einreise kein Visum erforderlich ist (§ 2 Abs. 4 FreizügG/EU), ist der Ablauf dieser Frist allerdings schwer zu bestimmen und entsprechende Ausreiseverfügungen in der Praxis kaum umzusetzen. Nicht erwerbstätige Unionsbürger und begleitende Familienangehörige können über die drei Monate hinaus bleiben, sofern sie einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel nachweisen können (§ 4 Frei-zügG/EU; zum Aufenthaltsrecht von sog. Drittstaatsbürgern s. III-8.2). Vom Erhalt existenzsichernder Sozialleistungen sind (auch) Unionsbürger ausgeschlossen, sofern sie im Inland nicht bereits berufstätig sind oder waren (§§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und Nr. 2b) und c) SGBII23 Abs. 3 SGBXII; s. dazu III-4.1.4 und III-4.2).Vor allem Unionsbürger aus den östlichen EU-Mitgliedstaaten, die nicht Mitglieder des Europäischen Fürsorgeabkommens sind (s. 1.1.5.2), stellen für die Soziale