Zum Fall Berger: Zentrale Voraussetzung für den Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung ist nach § 7 Abs. 1 Nr.3 SGB II – dem Parlamentsgesetz – die sog. Hilfebedürftigkeit. Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insb. von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Nach § 11 SGB II sind als Einkommen zunächst alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert – abzüglich der abzusetzenden Freibeträge nach § 11b SGB II – zu berücksichtigen, mit Ausnahme der in § 11a SGB II genannten Einnahmen. Der Bundesgesetzgeber hat allerdings in § 13 SGB II das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen auch ohne Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung u. a. zu bestimmen, welche weiteren Einnahmen nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind und wie das Einkommen im Einzelnen zu berechnen ist (s. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Alg II–V). Nach §§ 11 ff. SGB II ergibt sich, dass das Einkommen des Herrn Berger, das er für das Zeitungsaustragen erhält, angerechnet werden muss. Demgegenüber werden nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Alg II–V bei Sozialgeldempfängern, die das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Einnahmen aus Erwerbstätigkeit, soweit sie einen Betrag von 100 € monatlich nicht übersteigen, also hier das Geld, das die Tochter durch das Babysitten verdient, nicht angerechnet.
1.1.3.4 Satzungen
Die öffentlich-rechtliche Satzung ist ungeachtet desselben Begriffes und ähnlicher Funktionen von den privatrechtlichen Organisationsvorschriften rechtsfähiger Vereine nach § 25 BGB zu unterscheiden (vgl. hierzu II-1.1). Satzungen des öffentlichen Rechts sind Rechtsvorschriften, die alle Personen im Wirkungskreis einer Selbstverwaltungseinheit berechtigen und verpflichten oder organisatorische Regelungen für den Bereich der Selbstverwaltung enthalten können. Sie sind damit Rechtsnormen (Gesetze im materiellen Sinn), denn es handelt sich um verbindliche Regelungen für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen, die sich an eine unbestimmte Vielzahl von Personen richten. Die Befugnis zur Rechtssetzung durch Satzungen ist bestimmten juristischen Personen des öffentlichen Rechts (nur) zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten verliehen. Von besonderer Bedeutung ist der Erlass von Satzungen für die Gebietskörperschaften (Gemeinden, Landkreise, Bezirke) oder die Sozialversicherungsträger. Den Kommunen ist diese Autonomie ausdrücklich in Art. 28 Abs. 3 GG zugesichert. Allerdings ist diese Regelungsbefugnis auf die Verwaltung der eigenen Angelegenheiten begrenzt. Zu weitergehenden Eingriffen in die Rechtssphäre des Bürgers bedarf es einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung.
Die Gemeinden können z. B. die Benutzung von Wasserversorgungsanlagen, Entwässerungsanlagen, Schwimmbädern, Büchereien, Friedhöfen und Eisstadien durch Satzungen regeln. Gemeindeverbände können durch Satzungen u. a. die Benutzung von Mülldeponien regeln. Üblicherweise beschließt der Rat einer kreisfreien Stadt aufgrund der in den landesrechtlichen Kommunalordnungen und Gemeindeverfassungsgesetzen enthaltenen allgemeinen Ermächtigung eine sog. Hauptsatzung (Grundorganisation) und z. B. eine Satzung über die Benutzungsordnung in den städtischen Notunterkünften. Durch die Satzung kann der Rat die Zusammensetzung und Zuständigkeiten des Jugendhilfeausschusses als Teil der Verwaltungseinheit Jugendamt bestimmen (z. B. für Entscheidungen über Widersprüche gegen VA des JA, s. 5.2.2). In der Haushaltssatzung setzt der Rat der Stadt A. z. B. einen Betrag von 200.000 € zur allgemeinen Förderung der freien Verbände der Jugendhilfe an.
Über die durch Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG garantierte Satzungsautonomie im Hinblick auf die Regelung eigener Selbstverwaltungsangelegenheiten hinaus, kann den Kommunen auch durch Gesetz das Satzungsrecht übertragen werden, z. B. können nach § 22a Abs. 2 SGB II die Länder die Kreise und kreisfreien Städte durch Gesetz ermächtigen oder verpflichten, durch Satzung zu bestimmen, in welcher Höhe Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in ihrem Gebiet angemessen sind.
Die Sozialversicherungsträger, also die Träger der Renten- und Unfallversicherung oder die gesetzlichen Krankenkassen (siehe unten 4.1.2.1), regeln in ihren Satzungen z. B. die Aufgaben ihrer Organe, den Kreis der Versicherten und die Art und Weise der Willensbildung (vgl. § 34 SGB IV; § 194 SGB V, § 138 Abs. 4 SGB VI, § 118 SGB VII; entsprechendes gilt für die Bundesagentur für Arbeit, s. § 372 SGB III). Sie können u. a. eine Beitragssatzung über die Kostenregelung bei Rehabilitationsmaßnahmen erlassen.
Die Studien- und Prüfungsordnungen der Universitäten und Fachhochschulen sind in aller Regel landesrechtlich autorisierte Satzungen der Hochschulen zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten.
1.1.3.5 Tarifverträge
Der Tarifvertrag ist ein privatrechtlicher Vertrag (hierzu II-1.2) zwischen tariffähigen Parteien(Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände). Er regelt zum einen in seinem schuldrechtlichen Teil die Rechte und Pflichten der Tarifparteien, enthält aber darüber hinaus in seinem normativen Teil nach außen wirkende Bestimmungen, durch die die Arbeitsverhältnisse unmittelbar erfasst werden. So enthält der Tarifvertrag Rechtsnormen über Abschluss, Inhalt und Beendigung von Arbeitsverhältnissen, z. B. über Lohn, Arbeitszeit, Urlaub oder Kündigungsvoraussetzungen (sog. materielle Arbeitsbedingungen). Insoweit handelt es sich bei Tarifverträgen auch um Rechtsnormen. Näheres hierzu im Kapitel zum Arbeitsrecht (V-3.3.1).
1.1.3.6 Notwendige Abgrenzungen
Verwaltungsvorschriften
Verwaltungsvorschriften (VV) sind keine Rechtsnormen, sondern nur verwaltungsinterne Anweisungen, insb. übergeordneter an nachgeordnete Behörden oder des Dienstvorgesetzten an unterstellte Bedienstete. Für VV werden mitunter ganz unterschiedliche Begriffe verwendet, z. B. Dienstanordnungen, Dienstanweisungen, Richtlinien, (Rund-)Erlasse, Rundverfügungen, Allgemeinverfügungen, Durchführungsbestimmungen, Ausführungsvorschriften, Verwaltungsverordnungen, Hausordnung usw. VV lassen sich im Wesentlichen in drei Kategorien unterscheiden:
■ organisatorische VV zur Regelung des internen Dienstbetriebes: Dienstanweisung über die Unterschriftsbefugnis, Benutzung von Dienstfahrzeugen, Aktenführung;
■ norminterpretierende VV zur Auslegung von Rechtsvorschriften (hierzu 3.3.2), z. B.VV zum BAföG, zum BKGG, zum Wohngeldgesetz;
■ Ermessensrichtlinien zur Ausfüllung eines Ermessensspielraums (vgl. hierzu 3.4.2), z. B. über die Höhe einer Gebühr für den Besuch einer städtischen Kindertagesstätte.
Grds. sind Verwaltungsvorschriften keine Rechtsgrundlage für Maßnahmen gegenüber dem Bürger, weil sie keinen Rechtsnormcharakter haben (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG). Gegenüber dem Bürger werden daher durch sie weder Rechte noch Pflichten begründet. VV sind jedoch von den Mitarbeitern des Trägers der Verwaltung zu beachten, der sie erlassen hat (vgl. § 145 Abs. 2 BBG).
Obwohl Verwaltungsvorschriften nur verwaltungsintern verbindlich sind, können sie über Art. 3 GG bzw. den Grundsatz des Vertrauensschutzes mittelbar aufgrund einer dauernden Anwendungspraxis für Bürger und Gerichte verbindlich werden (Selbstbindung) und damit faktisch Außenwirkung entfalten, ja sogar anspruchsbegründende Wirkung haben. Eine Abweichung von der gleichmäßigen Anwendungspraxis der VV ist zwar zulässig, Voraussetzung ist aber stets, dass eine wesentliche Abweichung des Einzelfalles dies rechtfertigt (BVerwGE 19, 30). Andererseits müssen VV zur Ausfüllung des Ermessensspielraumes eine Abweichung zulassen, soweit wesentliche Besonderheiten im konkreten Fall vorliegen (BVerwG NJW 1980, 75).
Für die soziale Beratungspraxis haben Verwaltungsvorschriften eine große, wenngleich gelegentlich fragwürdige Bedeutung, denn man muss immer wieder feststellen, dass einzelne Sachbearbeiter ihr Handeln nicht am Gesetz und an den Besonderheiten des Einzelfalls orientieren, sondern an den internen Anweisungen und damit am Gesetzesverständnis der hierarchisch übergeordneten Instanz. Dies ist insb. bei der (fehlerhaften) Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen oder der Ausfüllung von Ermessenspielräumen