Im Sinne des modernen systemtheoretischen Ansatzes ist das positive Recht geradezu die Voraussetzung der modernen Gesellschaft (Luhmann 1970, 177 f.). Die „Heterogenität der Wertpräferenzen“ macht in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft ein Mindestmaß an Einheitlichkeit und Verbindlichkeit von Normen für den sozialen Kontakt unverzichtbar. Fehlt es an Konformität, ist die Gesellschaft in ihrem Bestand gefährdet. Recht dient damit der Wahrung von Konformität und dem Bestand des Sozialsystems.
soziale Kontrolle
Soziale Normen definieren deshalb in aller Regel nicht nur den Verhaltensbereich als solchen, sondern gleichzeitig auch die jeweiligen Reaktionen auf das von ihm abweichende Verhalten. Die sozialen und gesellschaftlichen Mechanismen und Prozesse, die abweichendes Verhalten verhindern und einschränken sollen, bezeichnet man als soziale Kontrolle. Diese soziale Kontrolle war und ist in sog. egalitären Gesellschaften der Sippe oder dem Stamm als Ganzem übertragen. Mit der Entwicklung des Staatswesens lag hierin seine zentrale Funktion. Mit öffentlicher Sozialkontrolle bezeichnet man alle gesellschaftlichen Einrichtungen, Strategien und Sanktionen, mit denen eine Gesellschaft die Einhaltung der in ihr geltenden Normen und die soziale Integration ihrer Mitglieder bezweckt. Hierin lag für Max Weber das Wesen von Recht und Staat (Weber 1921, 18). Dieser bezwecke mit seinem Zwangsapparat die Einhaltung der Normen und die Ahndung der Normverletzungen. Dies kann als Ordnungsfunktion oder – mit einem eher negativ assoziierten Begriff – als „Herrschaftsfunktion“ des Rechts bezeichnet werden. Recht gibt also nicht nur verbindliche Orientierungen im Hinblick auf das menschliche Verhalten, sondern ist gleichzeitig ein Ordnungsrahmen. Zu den Mitteln der Sozialkontrolle zählen u. a. das Recht,Religion, Erziehung und Sanktionen. Wer gegen die Tischsitten verstößt, wird ggf. schief angesehen und nicht mehr eingeladen, wer „aus der Rolle fällt“, macht sich gesellschaftlich unmöglich. Das kann im Einzelfall die soziale Existenz eines Menschen empfindlich treffen, man wird gesellschaftlich „abgestraft“ und ausgegrenzt. Anders als Rechtsnormen lassen sich aber z. B. Tischsitten gesellschaftlich nicht erzwingen. Dagegen gehört – in der Tradition der Rechtsphilosophie Kants – zum Recht als Instrument der öffentlichen Sozialkontrolle notwendig der staatliche Zwang. Die Geltung und Einhaltung der Rechtsnormen werden – wenn es nicht anders geht – erzwungen. Auch die in der modernen Zivilgesellschaft wieder wichtiger werdende autonome, außergerichtliche Konfliktregelung (hierzu I-6) lebt davon, dass im Hintergrund Zwangsmittel bereitgehalten und zur Verteidigung des Rechts und zum Schutz des Schwachen aktiviert werden können (Trenczek 2005, 17). Entscheidend ist für einen modernen Rechtsstaat – wenn man überhaupt von einem „Schatten“ des Rechts sprechen will – dass „das Recht stärker durch seinen Schatten wirkt als durch den tatsächlich exekutierten Zwang“ (Frehsee 1991, 59).
In einem modernen Rechtsstaat begrenzt sich die Funktion des Rechts freilich nicht darauf, orientierende Leitlinie für das Sozialverhalten seiner Bürger zu sein, die Menschenwürde zu sichern, persönliche Freiheit zu gewährleisten und soziale Kontrolle rechtsstaatlich abzusichern (sog. Grenzziehungsauftrag und Herrschaftskontrolle). Wesentlich sind vor allem die Strukturierung des Gemeinwesens und seiner wesentlichen öffentlichen Institutionen (Ordnungsfunktion) sowie – im Zusammenspiel mit dem Sozialstaatsprinzip – der Auftrag zur Chancenermöglichung (Emanzipation und Aktivierung) und der Gewährung gesellschaftlicher Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger. Auch wenn sich damit die Idee des Rechts an der Gerechtigkeit orientiert (hierzu 1.2), kann dieses Ziel immer nur ansatzweise erreicht werden, da im Widerstreit gesellschaftlicher und privater Interessen auch im besten Fall nur ein fairer Interessensausgleich geleistet werden kann.
1.1.2 Woher kommt das Recht? Die Genese der Rechtsnormen
Naturrecht
Bräuche und Sitten haben sich aufgrund der mit ihnen gemachten Erfahrungen gewohnheitsmäßig herausgebildet. Recht kann sich aus unterschiedlichen Quellen speisen. Als ungeschriebene Grundlage des Rechts wird häufig das sog. Naturrecht bezeichnet, also eine verbindliche Grundordnung, die der Mensch als gegeben hinnimmt, weil sie seiner Natur und seiner Vernunft entspricht. Hierauf basierte die Stoa, die 300 v. Chr. von Zenon dem Jüngeren gegründete Athener Denkschule, nach der das Recht nicht vom Staat begründet, sondern als ein allgemeines Naturgesetz angesehen wurde. Auch das für das heutige bürgerliche Recht in vieler Hinsicht einflussreiche Römische Recht basierte auf diesem Prinzip und es war in der modernen Rechtsgeschichte ein Dauerthema, wie viel „Natur“ das Recht besitzt bzw. verträgt. Uwe Wesel vergleicht das Naturrecht mit einem Zylinder, aus dem nur das herausgezaubert werden könne, was man vorher hineingelegt habe (Wesel 1994, 73). Mit der Natur hat man in der Vergangenheit alles Mögliche begründet, die Sklaverei genauso wie die Abschaffung der Sklaverei, die Gleichheit der Menschen wie die tiefste Barbarei. Insofern ist Zurückhaltung gegenüber naturrechtlichen Begründungen grds. angebracht. Dennoch muss gesehen werden, dass die klassischen Naturrechtskonstruktionen historisch insofern fortschrittlich sind, als sie die Vorstellung von einem „göttlichen Recht“ ablösen und zugleich, wie etwa bei Kant, darauf verweisen, dass das Recht nicht nur das Resultat rationaler Regelsetzung ist, sondern auch an empirische Voraussetzungen anknüpft. Hiermit ist vor allem die bei Kant so bezeichnete „Natur des Menschen“ gemeint, die der Vernunft zwar prinzipiell zugänglich ist, gleichwohl aber außerhalb und unabhängig von ihr existiert (Kant 1797, 345).
Universalitätsprinzipien
Auch unser heutiges mitteleuropäisches Rechtsverständnis ist von naturrechtlichen Vorstellungen beeinflusst, jedoch sind konkrete naturrechtlich begründete Glaubenssätze kaum noch zu finden. Gelegentlich wird allerdings die vom Grundgesetz als „natürliches Recht“ bezeichnete Erziehungsverantwortung der Eltern für ihre Kinder (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) zumindest teilweise als ein solcher angesehen (Gernhuber / Coester-Waltjen 2010, 38 f.).Tatsächlich handelt es sich bei Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG aber um positiv gesetztes Verfassungsrecht, das in der Rechtsprechung des BVerfG immer wieder auf faktische soziale Lebensverhältnisse bezogen wird, die einem permanenten Wandel unterliegen (hierzu ausführlich: Münder et al. 2013a, 34 ff.). Naturrechtliche Begründungen finden sich heute vornehmlich im Kontext der Menschenrechtsdiskurse, in denen von angeborenen Rechten des Menschen gesprochen wird, die in seiner Würde fundiert seien (hierzu: Opitz 2002, 12). Insofern werden Menschenrechte teilweise auch vom Standpunkt der Moral aus begründet (vgl. Tugendhat 1993, 336). In einer eher legalistischen Perspektive hingegen (z. B. Habermas 1992, 156) geht die heute angenommene universelle Geltung von Menschenrechten jedoch nicht aus ihrer naturrechtlichen Begründung hervor, sondern ergibt sich aus der „Bereitschaft der Staaten zum Abschluss entsprechender völkerrechtlich verbindlicher Vereinbarungen“