Religion und Moral
Früher galten auch Religion und Moral als wichtige Quellen des Rechts (vgl. Wesel 1984, 194 ff.). Im Verständnis der katholischen Kirche basiert das Kanonische Kirchenrecht auf dem göttlichen Willen. Zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte wurde durch philosophisch oder religiös begründete Moralvorstellungen von Gut und Böse und eine darauf basierende Sittenlehre festgelegt, was im Leben und in der Welt wertvoll ist. Die jeweils herrschenden Sitten und Moralvorstellungen wurden in eine Rechtsform gegossen. Bis in die Anfänge der Bundesrepublik (vgl. die Entscheidung des BGH 6, 46 ff. über die „Normen des Sittengesetzes“ und die „vorgegebenen und hinzunehmende Ordnung der Werte“ im Hinblick auf die Definition und Strafbarkeit der „Unzucht“) wurde auf eine ursprüngliche Einheit von Sitte und Recht, ja auch von Moral, Religion und Recht Bezug genommen. Dies konnte möglicherweise schon damals als Anachronismus gelten, handelt es sich hierbei doch eher um ein Kennzeichen sog. vorstaatlicher, oraler Gesellschaften. Allerdings beanspruchen auch heute in einer durch Internationalisierung und Migration gekennzeichneten Gesellschaft religiös (z. B. islamisch) geprägte Regelungen insb. im Internationalen Privatrecht (s. 1.1.6) wieder zunehmend Geltung.
Gerade mit Blick auf die permanenten Diskussionen über die Verschärfung des Strafrechts im Hinblick auf Prostitution und Kinderpornografie werden in der Öffentlichkeit wieder (vor)schnell moralische Kategorien zur Grundlage der Strafbarkeit erhoben. Weil Strafrecht (hierzu IV-1.3) aber ultima ratio, das letzte und (vermeintlich) schärfste Mittel des Rechts ist, darf es nicht ein Moralrecht sein. Seine Funktion darf nicht dahingehend ausgeweitet werden, dass mit ihm Meinungsverbote und Tabus durchgesetzt und als anstößig empfundenes künstlerisches Wirken verbannt werden (vgl. IV-2.3.3; ausführlich zum strafrechtlichen Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus: Hörnle 2004a). Begrenzungen der Handlungsfreiheit sind in den Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG vor allem im Hinblick auf die schützenswerten „Rechte anderer“ legitim. Insoweit ist der Strafgesetzgeber zweifellos gefordert, das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung gerade in Bezug auf Kinder, die dies entwicklungsbedingt noch nicht selbst können, effektiv zu schützen. Aber auch hier gilt, dass nur das, was in grober Weise sozialschädlich und damit wirklich strafwürdig ist, unter Strafe zu stellen ist.
Erst später, als die Schrift dominierendes Kultur- und Kommunikationsmedium wurde, hat sich das Recht zunehmend als eigene Kategorie entwickelt und einen Prozess der Verrechtlichung der Gesellschaft eingeleitet, den Max Weber als einen Vorgang allgemeinen sozialen Rationalitätsgewinns beschreibt (Weber 1921, 563). Dabei hat die Trennung von Recht und Moral durchaus zwei Seiten: die Vergrößerung der persönlichen Freiheit einerseits und die mangelnde Verbindlichkeit sittlicher Maßstäbe andererseits. Rein rechtspositivistisch ist es vorstellbar, dass jemand aufgrund der geltenden Gesetze rechtmäßig handelt, gleichwohl aber unmoralisch. Uwe Wesel (1999, 388) nennt hier als Beispiel den Betreiber eines Kraftwerkes, welches die Umwelt verschmutzt. Die Organisation Greenpeace, welche sich hiergegen zur Wehr setzt, mag dabei die Gesetze übertreten, ihr Protest hat aber zumeist die Moral auf seiner Seite. Gerade am Beispiel des zivilen Ungehorsams, der gewaltfrei ist, sich jedoch häufig der Formen (symbolischer) Rechtsnormverletzungen bedient (etwa: Sitzblockaden – vgl. IV-2.1.2 –, früher auch die Totalverweigerung, in den USA vor allem der Steuerstreik), zeigt sich, dass rechtliche und moralische Bewertungen ein und desselben Verhaltens zu mitunter sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen können (im Einzelnen hierzu: Dreier 1991, 39 ff.). Allein die Tatsache, dass ein Einzelner oder eine Gruppe positiv gesetztes, d. h. durch das verfassungsmäßig vorgesehene Gesetzgebungsverfahren verfasstes Recht im konkreten Einzelfall als unzweckmäßig oder auch ungerecht erachten, wird dessen Geltung jedenfalls regelmäßig noch nicht außer Kraft setzen. Zu diesem Ergebnis kommt auch der Strafrechtler und Kriminologe Gustav Radbruch (1878 –1949), der zugleich einer der bedeutendsten demokratischen Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts war. Für ihn verliert das positive Recht erst dann seinen Vorrang, wenn „der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat“ (sog. Radbruch‘sche Formel; Radbruch 1946, 107). Ein derart eklatantes Auseinanderfallen von Gerechtigkeit und Recht, das nach dem Verständnis von Radbruch zugleich zu einer Zerstörung des Rechts selbst führen musste, wurde von ihm etwa für die Zeit der NS-Diktatur konstatiert, in der schlimmstes Unrecht in „positives“ Recht gesetzt wurde. Einen solchen Fall von „gesetzlichem Unrecht“, wie Radbruch dies nannte, im Zusammenhang mit heutigen Protesten gegen tatsächliche oder vermeintliche politische Fehlentscheidungen annehmen zu wollen, wäre allerdings nicht nur historisch unangemessen, sondern auch im theoretischen Ansatz falsch, weil die Grundbedingungen für wirksamen Protest, auch in den Formen des zivilen Ungehorsams, gerade erst durch den demokratischen Rechtsstaat gesetzt werden. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass es sich als ausgesprochen schwierig erweisen kann, innerhalb des Rechts eine Lösung zu finden, wenn staatlich gesetztes Recht und das „Recht“ auf zivilen Ungehorsam oder Widerstand in ein Spannungsverhältnis geraten; umso bedeutsamer ist aber gerade in derartigen Fällen die Orientierung an grundlegenden Wert- und Verfassungsentscheidungen des deutschen Grundgesetzes (I-2) und der Europäischen Charta (1.1.5) sowie die daran anknüpfende rechtsstaatliche Kontrolle durch die Gerichte (I-5).
Gewohnheitsrecht
In einem modernen Rechtsstaat wird neues Recht grds. durch einen bewussten, verfahrensmäßig geregelten Rechtsetzungsakt (geschriebenes Recht) geschaffen. Das in der angelsächsischen Rechtstradition als Common Law lange vorherrschende, früher auch im deutschen Recht bedeutsame (ungeschriebene) Gewohnheitsrecht wirkt in einigen wenigen Bereichen noch fort, öffentlich-rechtlich z. B. im Schutz des Glockenläutens. Das früher einmal in Strafverfahren (vgl. BGHSt 11, 241 ff.) gewohnheitsrechtlich anerkannte „Züchtigungsrecht“ von Lehrern und Eltern ist mittlerweile durch die Schulgesetze und § 1631 Abs. 2 BGB aufgehoben worden. Eine Vorstufe des Gewohnheitsrechts bilden die Verkehrssitten und Handelsbräuche, also im Rechts- und Handelsverkehr akzeptierte Verhaltensnormen, deren Verbindlichkeit durch das Gesetz selbst bestätigt wird (vgl. §§ 138, 157, 242 BGB, § 346 HGB). Beispielsweise gilt unter Kaufleuten das Schweigen auf ein Bestätigungsschreiben als Vertragsannahme, während das Schweigen sonst im Rechtsverkehr keine Willenserklärung