Grundzüge des Rechts. Thomas Trenczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Trenczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846387269
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      Genese von Rechtsnormen

      War früher das Recht inhaltlich stark moralisch aufgeladen, ist es heute zunehmend zu einem formalen Steuerungsinstrument gesellschaftlicher Regelungsprozesse geworden. Für ein Naturrecht bleibt hier nicht viel Platz. Das, was Recht und was Unrecht ist, wird in einem Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit (hierauf basiert erkenntnistheoretisch der sog. Konstruktivismus), im Prozess der Rechtssetzung und in den positiv-rechtlichen Regelungen einer Rechtsordnung manifest. Nach der sog. Konsenstheorie ist das gemeinsame Rechtsbewusstsein der Gesellschaftsmitglieder die Entstehungsgrundlage von Rechtsnormen. Damit wird einerseits an das Natur- und Gewohnheitsrecht angeknüpft, andererseits an die von Jean-Jacques Rousseau (1712 –1778) begründete Vorstellung des Contrat social (Gesellschaftsvertrag), in dem sich die Mitglieder einer Gesellschaft auf gemeinsame Werte und Ziele einigen und sich diesen unterwerfen. Der soziologische Klassiker dieser Auffassung war Emile Durkheim, demzufolge die von den Bürgern anerkannten Werte mithilfe des Rechts, insb. des Strafrechts, vor ihrer Verletzung geschützt werden:

      „Man darf nicht sagen, daß eine Tat das gemeinsame Bewußtsein verletzt, weil sie kriminell ist, sondern sie ist kriminell, weil sie das gemeinsame Bewußtsein verletzt. Wir verurteilen sie nicht, weil sie ein Verbrechen ist, sondern sie ist ein Verbrechen, weil wir sie verurteilen“ (Durkheim 1977, 123).

      Nach der Konsenstheorie bringt die Rechtsordnung die widersprüchlichen Ansprüche und Wünsche der Menschen miteinander in Einklang, sodass sie letztlich dem Wohle der Gesamtheit dienen. Das Recht enthält alle notwendigen Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens, das Strafrecht (hierzu IV) alle Regeln, die von der Allgemeinheit für so wichtig gehalten werden, dass sie mit Sanktionen ausgestattet werden, um ihre Einhaltung zu garantieren. Danach erhält das Recht selbst eine konfliktlösende Funktion. Durch die Antizipation des Konsenses ist gewährleistet, dass widerstreitende Interessen bei der Normsetzung zu einem Ausgleich gebracht werden.

      Demgegenüber beruhen nach der sog. Konflikttheorie Rechtsnormen nicht auf dem Gesamtwillen der Gesellschaftsmitglieder, sondern sie sind das Resultat von Interessensauseinandersetzungen, also Ausdruck eines kontinuierlichen Kampfes. Rechtsnormen sind deshalb nach dieser Sichtweise nicht Ausfluss der Interessen aller Gesellschaftsmitglieder, sondern das Resultat des Sieges derjenigen Gruppe, die sich aufgrund ihrer Herrschaftsmacht im gesellschaftlichen Konflikt durchsetzen konnte. Gesetze seien deshalb stets in Rechtsform gegossene und dadurch mit Allgemeinvertretungsanspruch ausgestattete, inhaltlich aber partikuläre Interessen mächtiger Gesellschaftsgruppen. Das Recht, insb. das Strafrecht, diene diesen Gruppen als Herrschaftsinstrument zur Durchsetzung ihrer Interessen und trage insoweit zur ungleichen Verteilung von Macht und Ressourcen bei. Durch die Ungleichverteilung von Herrschaftsmacht kann es nach dieser Ansicht nicht zu einem Ausgleich widerstreitender Interessen kommen.

      Mag die Konflikttheorie die Genese von Rechtsnormen für die Menschheitsgeschichte, insb. in der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts auch zutreffend beschrieben haben, so reicht sie heute in der „reinen“ Form und ihrer Ausschließlichkeit als Erklärung für die Entstehung und Funktion von Rechtsnormen nicht aus. Es lässt sich nicht leugnen, dass Rechtsnormen heute einem Kernbestand gemeinsamer Interessen dienen, wie z. B. dem Schutz des Individuums u. a. vor staatlichen Eingriffen. Im Straßenverkehr muss man sich darauf verlassen dürfen, dass in Deutschland grds. rechts (in England und Australien links) gefahren wird und die eigene Teilnahme nicht durch grob verkehrswidriges oder rücksichtsloses Verhalten anderer gefährdet wird. Auch die strafrechtlichen Vorschriften zum Schutz von Leben, körperlicher Unversehrtheit und Willensfreiheit dienen elementaren Schutzbedürfnissen und werden von der Bevölkerung konsensual getragen. Das gilt grds. auch für den Eigentumsschutz. Freilich schützen die Vorschriften gegen Eigentums- und Vermögensdelikte nicht nur das individuelle Recht des Einzelnen, sondern es geht gleichzeitig auch um den Schutz der ökonomischen Grundordnung als solcher. Allerdings sind die Methoden zur Durchsetzung ökonomischer Interessen viel subtiler geworden, als dass es hierzu insb. des grobschlächtigen Mittels des Strafrechts als Herrschaftsinstrument bedürfte.

      Recht ist das Produkt menschlichen Handelns, es ist das Produkt eines gesellschaftlich-politischen Prozesses (vgl. hierzu ausführlich Behlert 1990, 18 ff.). Pluralistische Gesellschaften sind gekennzeichnet durch das Zusammenleben von Individuen und Gruppen mit unterschiedlichen politischen, ökonomischen und sozialen Interessen. In diesem gesellschaftlichen Interaktionsprozess werden sie versuchen, ihre Lebenschancen zu sichern und zu erweitern. Insoweit der Bestand an Rechtspositionen nur auf Kosten der Verringerung der Lebenschancen von anderen erweitert werden kann, werden sich unterschiedliche, widerstreitende Interessen gegenüberstehen. Deshalb kommt es notwendigerweise zu einer Unvereinbarkeit und einem Widerstreit von Interessen, zu Interessenskonflikten. Anders als noch bei den Gesellschaftsmodellen von Emile Durkheim, Talcott Parsons und Max Weber ist aus heutiger Sicht der Konflikt als solcher weder systemstörend, dysfunktional noch negativ, sondern kann auch als treibende Kraft im Prozess des sozialen Wandels notwendig sein (Dahrendorf 1961, 112 ff.; Galtung 1984, 129 ff.). Recht kann insofern als institutionalisierte Konfliktlösung angesehen werden, ohne damit gleich einem harmonisierenden Wunschbild zu verfallen. Die Rechtsordnung als Segment der Gesellschaft ist kein konfliktfreier Raum. Als Produkt menschlichen Handelns ist Recht stets interessenvermittelt und als Mechanismus der Sozialkontrolle nicht nur Integrations-, sondern selbst auch Konfliktstruktur. In der Entstehung und Anwendung von Rechtsnormen drückt sich wie in allen anderen Gesellschaftsbereichen das jeweilige Kräfteverhältnis konkurrierender politischer, ökonomischer und sozialer Interessen aus. Hierbei werden sich diejenigen Gruppen durchsetzen, die hierzu die erforderliche Macht besitzen. Dabei ist heute aber nicht mehr nur an einen kleinen Kreis der ökonomischen Elite zu denken, die sich in einer globalisierten Welt ohnehin zunehmend nationalen Rechtsordnungen entzieht, sondern vor allem an einflussreiche Gruppen staatlicher Institutionen (Justiz und Ministerialbürokratie), Personen und Organisationen, die auf die Sicherung ihres Status bedacht sind, an die Lobbyisten und sog. Moralunternehmer, die ihre Moral- und Wertvorstellungen für alle verbindlich machen wollen. Die Rechtsordnung als Konfliktfeld zu begreifen, schließt die Möglichkeit zum Konsens nicht aus. Wahrer Konsens ist freilich nur möglich unter den idealisierten Bedingungen unbeschränkter und herrschaftsfreier Kommunikation autonomer Individuen.

      „Wir wären nur dann legitimiert, das tragende Einverständnis … mit dem faktischen Verständigtsein gleichzusetzen, wenn wir sicher sein dürfen, daß jeder im Medium der sprachlichen Überlieferung eingespielte Konsens zwanglos und unverzerrt zustande gekommen ist“ (Habermas 1971, 154).

      Der Konsens darf allerdings in einer Demokratie nicht – wie von der Konsenstheorie suggeriert – vorausgesetzt werden, sondern ist stets nur das vorläufige und stets abänderbare Ergebnis eines politischen Prozesses.

      Die Definition von Recht ist bis heute einem kontinuierlichen Wandel unterworfen. Denn zum einen ändern sich permanent seine normativen Inhalte: Was gestern verboten war (z. B. Prostitution, homosexuelle Handlungen), kann heute erlaubt sein, was in dem einen sozialen Kontext erlaubt ist, ist in einem anderen verboten (vgl. z. B. die unterschiedlichen ehe- und strafrechtlichen Bestimmungen in der Türkei und die Diskussion über die Angleichung der türkischen Rechtsordnung an die Werte- und Rechtsordnung der EU). Recht und soziale Kontrolle dürfen nicht zu starr sein, denn der soziale Wandel lässt sich nicht verhindern. Eine dies ignorierende starre Rechtsordnung müsste zum Auseinanderbrechen des Systems führen. Zum anderen aber war zu sehen, dass Recht noch nicht begriffen werden kann, wenn man nur diese normativen Inhalte im Blick hat, ohne nach den gesellschaftlichen Gegebenheiten für deren Umsetzung im sozialen Handeln der Menschen zu fragen oder danach, inwiefern in ihm allgemeine gesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellungen zum Ausdruck gebracht sind. Wiederum von Kant stammt der einprägsame Vergleich eines rein normativ begriffenen Rechts mit einem Kopf, „der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat“ (Kant 1797, 336). Will man daher am Ende doch eine Definition von Recht versuchen, so könnte diese in Anlehnung an Ralf Dreier lauten, dass es sich beim Recht um die Gesamtheit der Normen handelt, die zur Verfassung eines staatlich organisierten oder zwischenstaatlichen Normensystems gehören bzw. die gemäß dieser Verfassung gesetzt sind, sofern sie im Großen und Ganzen sozial wirksam sind und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit aufweisen (vgl. Dreier 1991, 116).

      1.1.3