Europäische Urbanisierung (1000-2000). Dieter Schott. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dieter Schott
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846340257
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nehmen. Es wird die (theoretische) Fläche ermittelt, die benötigt wird, um die in einer Stadt erforderlichen Ressourcen zu erzeugen bzw. zu gewinnen, aber auch um die Rest- und Abfallprodukte zu entsorgen. William Rees und Mathis Wackernagel, die in den 1990er-Jahren diese Methode entwickelt haben, nannten diesen Indikator einprägsam „Ökologischer Fußabdruck“ (ecological footprint).13 Londons ökologischer Fußabdruck beansprucht nach einer Studie von 2002 eine Fläche, die dem Doppelten der Gesamtfläche Großbritanniens entspricht, fast dem Dreihundertfachen der Stadtfläche. Jeder Londoner entwickelt einen Fußabdruck von 6,63 ha, während global – bei gleicher Verteilung der Ressourcen – pro Weltbewohner nur 2, 18 ha zur Verfügung stehen. Perspektivisch bedeute dies – so die Studie –, dass die Londoner eine Reduktion ihres Ressourcenverbrauchs um 35 % bis 2020, um 80 % bis 2050 realisieren müssten, um nachhaltig zu sein.14

      Das Konzept „gesellschaftlicher Stoffwechsel“ der Stadt erlaubt, die Beziehungen zwischen Städten und ihrer Umwelt in einen Gesamtzusammenhang zu bringen. Wir können die Abhängigkeit einer Stadt von den natürlichen, für ihre Reproduktion notwendigen Ressourcen erfassen und die Schwachpunkte, die Aspekte, hinsichtlich [<<20] derer eine spezifische Stadt am meisten verwundbar war und am wenigsten autonom ihre Versorgung sicherstellen konnte, identifizieren. Wir können daher die Ver- und Entsorgungsstrategien verschiedener Städte innerhalb einer Zeitperiode vergleichen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede ausmachen. Dabei geht es allerdings nicht primär um das Herausarbeiten von Besonderheiten, sondern vielmehr um die Darstellung allgemeiner, für die meisten Städte strukturell ähnlicher Muster. Im Zeitverlauf können wir fragen, wie sich solche Strategien in Reaktion auf Bevölkerungswachstum oder Schrumpfung, auf politische oder ökonomische Veränderung gewandelt haben.

      Fokus 2: Die Umwelt der Stadt

      Das zweite Thema, das diesen Band als roter Faden durchzieht, ist die Frage nach der „Umwelt“ der europäischen Städte in einem weiteren, umfassenden Sinn. Städte waren nicht nur geprägt und zugleich auch begrenzt von ihrer Lage in der Landschaft, ihren Standort etwa an einem wichtigen Fluss, durch Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit der sie umgebenden Länder. Sie sahen sich auch in politisch und religiös bestimmte Umwelten eingebunden, mit Herrschaftsstrategien und geistigen Bewegungen konfrontiert, die sich auf ihre Position in politischen Bündnissen auswirkten, die die Bewohner der Stadt mobilisierten und zur Durchsetzung neuer Forderungen, zur Schaffung neuer Strukturen motivierten, wie dies in der vorindustriellen Zeit etwa im Investiturstreit oder in der Reformation der Fall war. „Umwelt“ der Städte war außerdem bis ins 18. Jahrhundert der Feudalismus, die Art und Weise, wie die europäischen Gesellschaften ihren Umgang mit Boden, ihre Landwirtschaft, ihre gesellschaftliche Hierarchie und ihren Austausch organisierten. Dabei handelte es sich um eine keineswegs statische, aber sich doch in sehr langen Zeiträumen wandelnde Formation, innerhalb derer die Städte mit der Garantie persönlicher Freiheit für ihre Bewohner, aber auch mit der größeren Bedeutung marktförmiger Allokationsprozesse, eigentlich systemfremde Inseln bildeten. „Umwelt“ städtischer Entwicklung waren schließlich auch langfristige demografische und ökonomische Konjunkturen, die die europäische Geschichte insgesamt seit dem Frühmittelalter prägten, ein Wechselspiel zwischen Expansion – Krise – Kontraktion und Erholung, das sich natürlich auch auf Städte und deren Entwicklung in gelegentlich überraschenden Effekten auswirkte, wenn z. B. Städte – nach zunächst dramatischen Bevölkerungsverlusten durch die Pest Mitte des 14. Jahrhunderts – später dann zu Gewinnern in der Krise des 14. Jahrhunderts wurden (vgl. Kap. 5.2.2, S. 93). Diese großen Perioden von Expansion, Krise und Kontraktion strukturieren insbesondere die Kapitel 2 (S. 25), 3 (S. 41), 5 (S. 89) und 6 (S. 125). Angesichts der Fülle und Vielschichtigkeit historischer [<<21] Entwicklungsprozesse in diesem langen Zeitraum eines Jahrtausends können viele historisch-politische Rahmenbedingungen allerdings nur knapp angedeutet werden.

      Fokus 3: Die Stadt als Umwelt

      Eine dritte strukturierende Fragestellung richtet sich auf den Wandel von Stadt als Umwelt der Städter. Städte als gebaute Artefakte gesellschaftlichen Zusammenlebens unterliegen einem historischen Wandel, der sich über Prozesse des Verfalls und Neubaus, der kollektiven Formierung bestimmter Räume in der Stadt (Mauern, Plätze, Straßen, öffentliche Einrichtungen), der Zerstörung und des Wiederaufbaus nach Kriegen und Naturkatastrophen manifestiert. Und auch die Stoffströme der Stadt gehen nicht in gesamtstädtischen Materialbilanzen auf, sondern wurden konkret kleinräumlich vermittelt und organisiert, etwa durch die Hunderte oder Tausende von Grundwasserbrunnen in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (vgl. Kap. 5.4, S. 109) oder die hochgradig regulierten städtischen Märkte. Es wird daher immer wieder aufgezeigt werden, wie Stadt als gebaute Struktur aussah, wie bestimmte Funktionen räumlich zugeordnet waren, wo und wie sich „Natur“ in der Stadt zeigte und insbesondere, wie sich soziale Ungleichheit im Raum der Stadt artikulierte. Für die Zeiträume näher zu unserer Gegenwart wird die baulich-räumliche Umgestaltung der Stadt zentrales Thema, sei es quasi-naturwüchsig durch die Marktkräfte einer entfesselten Industrialisierung wie in der shock-city Manchester (vgl. Kap. 8, S. 193) oder im Berlin der gründerzeitlichen Mietskasernen, sei es durch Versuche planmäßiger Neuordnung, wie sie sich in staatlichen oder städtischen Umbauprogrammen, etwa der „Haussmannisierung“ von Paris Mitte des 19. Jahrhunderts (vgl. Kap. 10, S. 253), beobachten lassen.

      1.2 Das Vorgehen

      Die Darstellung in diesem Studienbuch ist grob chronologisch. Sie setzt ein mit dem Wiederaufschwung der Städte im christlichen Europa um das Jahr 1000, als sich neben den wenigen verbliebenen Resten des römischen Städtewesens dank eines generellen demografischen und ökonomischen Aufschwungs neue Stadtgründungen vermehrt registrieren lassen. In den Kapiteln Скачать книгу